Andreas Rieger
Kommt der Brexit schlimm oder schlimmer? Wir wissen es noch nicht genau. Aber eine grosse Illusion ist er so oder so.
Die bereits geschwächte britische Industrie muss ihre Exporte aufs europäische Festland neu an der Grenze deklarieren oder, noch schlimmer: hohe Zölle bezahlen. Chauffeure müssen vor der Grenze tagelang in ihren Truckern hausen und warten. Einwanderinnen und Einwanderer aus EU-Ländern müssen neu einen Bürokratie-Hürdenlauf machen. Zehntausende dringend benötigter Arbeitskräfte werden dem Königreich deshalb fehlen. Die Britinnen und Briten, deren Konsumgüter zu einem Drittel aus der EU stammen, werden draufzahlen. Die Liste der schlimmen Brexit-Folgen liesse sich beliebig verlängern.
Souverän sein kann man nicht im Alleingang.
GROSSMÄULIGE VERSPRECHEN. 2016 sagten 51,7 Prozent der Stimmenden Ja zum Brexit. Nach einer demagogischen Kampagne: Der konservative Boris Johnson, heute Ministerpräsident, versprach grossmäulig, dass Grossbritannien wieder eine zentrale Rolle in der Welt spielen würde, sobald es sich aus den Fesseln der EU befreit hätte. Das Volk werde profitieren: Milliarden Pfund würden mit dem Austritt aus der EU eingespart und dem Gesundheitswesen zugeführt. Es wäre endlich Schluss mit der «Zufuhr billiger Arbeitskräfte» aus Europa. «Take back the control!», bestimmen wir wieder allein, «souverän»! So tönte der Lockruf. Nur: Das mit der Souveränität ist weitgehend eine Illusion.
VON WEGEN SOUVERÄN! Grossbritannien ist verteidigungspolitisch in die Nato eingebunden. Aussenpolitisch ein Vasall der USA. Und innenpolitisch schwer abhängig von der Zuwanderung. Der Inselstaat findet längst nicht mehr genügend Arbeitskräfte im Inland. Sollten jetzt, nach dem Brexit, keine Polinnen und Polen mehr kommen, werden es halt Pakistani oder Inderinnen sein. Und die wird man, wenn nötig, auch schwarz beschäftigen. Vor dem Brexit sorgten EU-Richtlinien dafür, dass auf der Insel nicht 50 Stunden pro Woche gearbeitet werden musste. Und dass es einen Elternurlaub gab. Wird damit jetzt souverän Schluss gemacht?
Wer in der engvernetzten Welt mitreden und mitbestimmen, also «souverän» sein will, kann das nicht im nationalen Alleingang machen. Sondern nur im Länderverbund, international. Genau diese Moral aus der Geschicht’ werden die Britinnen und Briten in der nächsten Zeit bitter erfahren.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.