Ob DPD oder Amazon, das System bleibt gleich: Der Konzern diktiert die miesen Arbeitsbedingungen, die Verantwortung schieb er aber auf Subunternehmen ab.
PÄCKLI-POST: Amazon kontrolliert fast jeden Schritt seiner Fahrer. (Foto: AFP)
Am 15. Februar, morgens um halb sieben, eröffneten rund 400 Fahrerinnen und Fahrer das Streikjahr für den US-Onlinegiganten Amazon. Die Streikenden im norditalienischen Vigonza sind nicht direkt bei Amazon angestellt, sondern bei Subunternehmen (wie bei DPD, siehe Text rechts). Es ging um unerträglichen Arbeitsdruck und magere Löhne. Hinzu kam das Coronavirus, das bereits viele Amazon-Standorte zu Hotspots gemacht hat. Einer der streikenden Fahrer, der schon seit mehreren Jahren für Amazon unterwegs ist, sagt: «2017 mussten wir täglich 60 bis 70 Lieferungen ausfahren, heute sind es 120 bis 140. Amazon kontrolliert sogar unsere Pausen.» Ein Sprecher der italienischen Transportarbeitervereinigung (FILT) im nationalen Gewerkschaftsbund CGIL ergänzt, die Fahrerinnen und Fahrer hätten genaue Vorgaben zu ihren Routen, und bei dem Zeitdruck, unter dem sie liefern müssten, brächten sie ständig sich selbst und andere in Gefahr.
Fast ein Jahr haben sich die Streikenden und die Gewerkschaft um eine Verhandlungslösung mit Amazon bemüht. Vergeblich: In Vigonza wie auch an anderen italienischen und weiteren Standorten behauptet der Konzern dreist, er sei nicht für die Arbeitsbedingungen der von ihm beauftragten Spediteure zuständig.
«2017 mussten wir täglich 60 bis 70 Lieferungen ausfahren, heute sind es 120 bis 140.»
SCHEINSELBSTÄNDIGE
Genau dies ist das Prinzip von Amazon Logistics, dem hauseigenen Paketlieferdienst. In Deutschland startete er vor fünf Jahren und entwickelte sich mittlerweile zu einem der grössten Lieferdienste des Landes. Wer mitmachen will, benötigt laut jugendlich-flotter Amazon-Werbung 25 000 Euro und den Mut, sich als selbständiger Unternehmer zu versuchen. Dazu braucht es ein Fahrzeug, das Amazon inklusive Schriftzeichen verbilligt oder per Leasing anbietet, ausgerüstet mit Navigationssystem und Paketscanner. Dann muss der «selbständige Unternehmer» nur noch die Fahrerinnen und Fahrer anstellen und für ihre ordnungsgemässe Sozialversicherung sorgen. Alles andere macht Amazon: Er schult die Jungunternehmer und schreibt den Fahrerinnen Uniformen und Arbeitszeiten vor. Über ihr Navi erhalten die Fahrer genaue Vorgaben, welche Strassen in welcher Reihenfolge sie nehmen müssen. Und Amazon diktiert auch die Stundenlöhne: In Deutschland sind das je nach Standort 11,30 bis 12,70 Euro, nach zwei Jahren 2600 Euro brutto. Ob sich die «Logistik-Partner» daran halten? Das kontrolliert Amazon nicht.
All diesen Vorgaben und Abhängigkeiten zum Trotz gelten die neuen Unternehmer rechtlich nicht als Scheinselbständige. Amazon muss deshalb auch die seit 2019 in Deutschland geltende Nachunternehmerhaftung nicht fürchten, die vergleichbar mit der Solidarhaftung des Erstunternehmers im Schweizer Baugewerbe ist. Das bestätigt zähneknirschend sogar die Gewerkschaft Verdi.
AMAZON FLEX
Ein Problem löst allerdings auch Amazon Logistics nicht: Es fehlen Fahrerinnen und Fahrer, die bereit sind, bei den gebotenen Löhnen und Arbeitszeiten die Pakete auszuliefern. Für etwas Entspannung zumindest in Grossstädten soll da Amazon Flex sorgen. Ganz nach dem Prinzip Uber kann, wer volljährig ist, ein Auto und ein Smartphone besitzt, als selbständiger Fahrer für das Unternehmen arbeiten. Der Köder in Deutschland: ein Stundenlohn von 25 Euro. Versteht sich: Die Fahrerinnen und Fahrer müssen selbst für Benzin und Unterhalt des Autos sorgen, sie müssen sich versichern und haben keinerlei Arbeitsschutz.
Unklar ist allerdings, wie lange diese besonders dreiste Form der Ausbeutung noch erlaubt ist. Spanien hat sie als erstes Land letztes Jahr als betrügerisch beurteilt und verboten. Laut dortigen Erhebungen verdienen die 3000 Beschäftigten nach Abzug der Kosten für Benzin, Instandhaltung ihres Autos und Versicherung unter dem Strich gerade mal 5 Euro pro Stunde. Der Konzern ist jetzt gezwungen, Amazon Flex in Spanien einzustellen und die verbleibenden «Selbständigen» fest anzustellen.
Wichtige Erfolge:Gewerkschaften gegen Amazon
Die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft Verdi streitet sich mit Amazon seit 2013 über die Anerkennung des Gesamtarbeitsvertrages des Einzel- und Versandhandels. Der US-Konzern beharrt darauf, dass die rund 16’000 Beschäftigten dem viel schlechteren GAV der Logistikbranche folgen sollen, den er allerdings auch nicht unterschrieben hat. Verdi rief seine Mitglieder immer wieder zu Streiks auf, zuletzt in den Tagen vor Heiligabend gleich an sechs Standorten. Mit ihrem jahrelangen Kampf haben sie einiges erreicht: In dieser Zeit sind die Löhne laut Verdi um 20 Prozent gestiegen, es gibt ein Weihnachtsgeld zusätzlich und Massnahmen zur Arbeitserleichterung.
SKURRILE METHODEN. Gewerkschaftsarbeit tut Amazon weh. Deshalb geht er mit geheimdienstlicher Überwachung, teilweise auch mit eher skurrilen Methoden, gegen alle Versuche vor, in seinen Lagern Gewerkschaften zu gründen (work berichtete). Folgenreich für den gesamten US-Markt könnte eine hartnäckige Auseinandersetzung am Standort Birmingham im US-Bundesstaat Alabama werden. Dort stimmen die 6000 Beschäftigten in diesen Tagen über die Gründung einer Gewerkschaftsgruppe ab.
Amazon versuchte zunächst, die Abstimmung ganz zu verhindern. Als das nicht gelang, stellte das Unternehmen Kündigungsprämien von 2000 bis 3000 Dollar in Aussicht, zumindest teilweise verbunden mit der Zusage, diejenigen, die das Angebot annähmen, nach der Abstimmung wieder einzustellen. Zudem liess Amazon die Wartezeiten an den Ampeln vor dem Werksgelände verkürzen, damit Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dort keinen Kontakt zu den Beschäftigten aufnehmen konnten. Die Abstimmung läuft noch bis Ende dieses Monats. Es wäre die erste Gewerkschaftsgruppe in den USA, die offiziell in einem Amazon-Standort arbeitet. Und der Onlinegigant wäre gezwungen, Verhandlungen über einen Gesamtarbeitsvertrag aufzunehmen.