Eine Unia-Sekretärin und ein Unia-Sekretär werden verhaftet, weil sie mit Kreidespray unterwegs sind. Ein anderer wird beinahe von einem hässigen Chef überfahren. Das sind gleich zwei Angriffe auf Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter innert kürzester Zeit. work rekonstruiert sie:
KRASS: Wegen Sprayens mit Kreide wurden Tabea Rai und Julien Mayor abgeführt. (Foto: Matthias Luggen)
Überfall 1: Berner Polizei schikaniert Unia-Leute Tabea Rai und Julien Mayor «Hände zeigen, Tasche auf den Boden!»
Ein Mittwochabend im Februar in Bern. Unia-Frau Tabea Rai (27) und Unia-Mann Julien Mayor (29) sind im Berner Breitenrainquartier unterwegs. Sie sprayen Parolen auf den Boden. Mit Kreidespray. Der kann mit Wasser jederzeit weggewaschen werden. Es ist kurz vor der Abstimmung über mehr Sonntagsverkäufe, was die Unia ablehnt. Die beiden sprayen Sätze wie: «Nein zu mehr Sonntagsverkäufen!». Plötzlich biegt ein Polizeiauto in irrem Tempo um die Ecke, fährt Gewerkschafterin Rai vor die Füsse. Zwei Polizeibeamte hechten aus dem Auto und schreien «Hände zeigen, Tasche auf den Boden!» Dann fährt noch ein zweiter Streifenwagen vor, wenig später ein dritter. Fünf Polizisten und eine Polizistin stehen nun Rai und Mayor gegenüber. Rai sagt: «Ich bin wahnsinnig erschrocken!» Zunächst denkt sie noch, es handle sich nur um eine Ausweiskontrolle. Damit hat sie gerechnet. Rai kennt andere, die ihre Ausweise beim Kreidesprayen zeigen mussten, dann aber weitermachen durften. Doch die Beamten nehmen ihnen die Dosen weg und führen sie ab.
«Die Leibesvisitation war unverhältnismässig.»
PEINLICH
Im Hauptquartier der Berner Kantonspolizei werden die beiden in eine Kabine gesteckt. Unia-Mann Mayor muss die Hose ausziehen. Bei ihm lassen die Beamten es immerhin dabei bewenden. Unia-Frau Rai hingegen muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, jedes Kleidungsstück wird peinlich genau inspiziert. Die Beamtin greift sogar unter die Unterwäsche.
Für Strafrechtsprofessor Jonas Weber von der Uni Bern ist klar: «Wenn es tatsächlich nur um die Kreidesprayereien ging, dann war die Leibesvisitation unverhältnismässig.» Auch deshalb, weil die Beamten die Dosen ja bereits konfisziert hatten. Grundsätzlich sei eine Leibesvisitation nur dann verhältnismässig, wenn der Verdacht bestehe, dass eine Person eine Waffe oder sonst einen verbotenen Gegenstand am Körper trage.
Isabelle Wüthrich, Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern, schreibt work, es sei auch in ihrem Interesse, die Verhältnismässigkeit von Massnahmen zu prüfen. Im konkreten Fall seien diesbezüglich bereits interne Abklärungen im Gang. Ob Sprayen mit Kreide generell verboten sei, könne sie nicht sagen. Das müsse im Einzelfall geprüft werden.
KLEINLICH
Aber warum behandelt die Polizei Mayor und Rai unterschiedlich? Warum geht sie ausgerechnet bei der Frau noch unverhältnismässiger vor? Liegt das vielleicht daran, dass sie indische Wurzeln hat? Rai sieht das eindeutig so. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sie rassistisch motivierte Schikanen erlebt.
Schliesslich darf sich Rai wieder anziehen, es geht jetzt zur Befragung. Unterdessen hat die Polizei zwei weitere Kollegen damit beauftragt, vor Ort mit Wasser zu testen, ob sich die Kreidesprayereien tatsächlich entfernen liessen. Rai erinnert sich: «Sie sagten, Sachbeschädigung sei es nicht.» Was dann? Warum wurden Mayor und Rai verhaftet? Wenn selbst die Grüne Berner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher die Kinder auffordert, die Stadt mit Kreidezeichnungen zu verschönern? Als Rai dieses Argument vorbringt, antwortet ein Polizist, US-Präsident Trump habe auch zum Sturm aufs Capitol aufgerufen.
Die Berner Stadtpolizei hat nun gegen Mayor und Rai Strafanzeige erhoben. Wegen Verunreinigung von fremdem Eigentum (Gesetz über das kantonale Strafrecht, Artikel 8).
Strafrechtsprofessor Weber findet diese Anzeige «etwas weit hergeholt». In diesem Artikel gehe es der Sache nach um den Schutz historisch wertvoller Bauten, nicht um Bagatellen wie Kreidespray auf Trottoirs. Zudem hält Weber die Anzeige für «kleinlich». Und zwar deshalb, weil die Unia-Leute für ein politisches Engagement unterwegs waren. «Ich würde mir für solche Fälle ein grosszügigeres und demokratiefreundlicheres Verhalten der Polizei wünschen.»
Überfall 2: So etwas hat Unia-Mann Aymen Belhadj (32) noch nie erlebt «Ich dachte schon, das war’s jetzt! Fertig!»
Unia-Mann Aymen Belhadj. (Foto: ZVG)
Es ist noch dunkel in der Früh. Unia-Sekretär Aymen Belhadj und sein Kollege Pascal Vosicki verteilen Flugblätter vor dem Depot des Päcklidienstes DPD in Bussigny VD. Die beiden tragen gut sichtbare Unia-Warnwesten und stehen am Strassenrand. Die Fahrer, die das Depot verlassen, halten kurz an, Belhadj und Vosicki strecken ihnen die Flyer entgegen und eine Dose Redbull als Giveaway. Um viertel nach fünf geht Belhadj zum Unia-Auto, Redbull-Nachschub holen. Unterwegs sieht er einen DPD-Fahrer, den er kennt. Dieser hält neben dem Unia-Mann, kurbelt die Scheibe runter, sie plaudern.
Plötzlich hupt hinter Belhadj ein weisser Lieferwagen ohne Aufschrift, der Motor heult auf, der Wagen gibt Gas. Behadj drückt sich ans Auto des befreundeten DPD-Fahrers. Der Lieferwagen rast vorbei. Geschockt und zitternd brüllt der Unia-Mann dem Raser-Fahrer nach: «Hey, was machen Sie da?»
«Willst du mich umbringen, oder was?»
GERFÄHRLICH NAH
Der Lieferwagen reisst einen Stop. Rollt nun rückwärts. Direkt auf Belhadj zu. «Ich traute meinen Augen nicht», sagt dieser zu work. In letzter Minute kann sich der Unia-Mann mit einem Riesensprung zur Seite retten. Haarscharf! Belhadj ist ausser sich und ausser Atem. Da sieht er, wie das Camionnette erneut einen Stop reisst. Sein Fahrer steigt aus. Belhadj: «Er trug einen Bart, kam auf mich zu und schrie: «Du hast hier nichts zu suchen!» Belhadj weicht taumelnd zurück. Nichts wie weg! denkt er. Ganz mulmig ist ihm. Er ruft dem Raser zu: «Willst du mich umbringen, oder was?» Er sei Gewerkschafter und dürfe seine Arbeit hier machen.
Doch der Wüterich ist nicht zu bremsen. Er kommt noch näher. Die Augen zusammengekniffen. Gefährlich nah. Da springt der befreundete DPD-Fahrer dazwischen. Donnert dem Raser entgegen: «Mann, spinnst du?» Und hält ihn mit ausgestrecktem Arm auf Distanz. Wehrt ihn ab. Nach ein paar Minuten stillen Ringens zieht der Wüterich fluchend ab. Steigt in sein Camionnette, fährt weg.
Zwei Wochen sind vergangen seither. Doch der Schreck sitzt Aymen Belhadj noch immer in den Knochen: «So etwas habe ich noch nie erlebt! Ich dachte: Das war’s jetzt! Fertig, aus!» sagt er. Belhadj hat jetzt bei der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige eingereicht.