Türmchen bauen, Prinzen spielen, Hexen malen: Im Kindergarten von Sophie Blaser machen die Kinder weit mehr als das. Sie lernen, sich selbst und andere zu akzeptieren. Damit fährt die 29jährige in Zeiten von Corona gut.
KLEINES BIOTOP: Im Kindergarten bekommt Sophie Blaser hautnah mit, wie Gruppen funktionieren. (Fotos: Nicolas Zonvi)
Zürich Letzigraben. Neue Genossenschaftshäuser reihen sich an alte Arbeiterblöcke. Dazwischen ein grosser Park, in dem sich eine kleine Baracke versteckt. Wie eine eigene Welt liegt der Kindergarten da. Es ist Sophies Welt. Hier im denkmalgeschützten Gebäude führt Sophie Blaser die vier- und fünfjährigen Kinder aus dem Quartier in die Schule ein. Und fast noch mehr ins Leben. Denn bereits bei der ersten Frage blitzt zum ersten – von vielen Malen – die politische Sophie Blaser durch. Zur «Kindergärtnerin» berufen? Mitnichten! «Beide Begriffe gehen mir auf den Keks», sagt die 29jährige Stadtzürcherin lachend. Sie holt aus – hundert Jahre, um genau zu sein. Damals passten kinderlose Frauen vor der Einschulung auf die Kinder auf. Natürlich unentgeltlich. Schliesslich war das Zusammensein mit den Knirpsen Lohn genug. «Berufung ist oft eine Rechtfertigung für schlechte Bezahlung. Weil es Spass macht, muss Frau ja nicht so viel verdienen», redet sich Sophie Blaser in Rage.
SPIELEN UND REDEN: Im Kindergarten von Sophie Blaser ist beides gleich wichtig. Die Kinder sollen lernen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken.
AUF AUGENHÖHE. Ein zeitgemässer Kindergarten sei heute viel mehr als ein wenig die Kinder unterhalten. Aus dem gleichen Grund heisst es auch nicht mehr Kindergärtnerin. Sondern Lehrperson Kindergarten. «Wir spielen nicht nur. Wir fördern aktiv und individuell.»
Jeden Morgen finden die Kinder bei ihrer Garderobe eine farbige Karte mit einer Aufgabe darauf. Einen Turm bauen, weben, knobeln, Leiterlispiel spielen. Manchmal zu zweit oder in Gruppen. Oft alleine. Im Anschluss redet Sophie Blaser mit jedem ihrer Schützlinge. Wie lief es? Wie fühlte sich das Kind dabei? War es anstrengend? Was fehlte? «So lernen sie, ihre Handlung und ihre Gefühle zu reflektieren. Sie lernen sich dabei besser kennen und können ihre Bedürfnisse wahrnehmen», erklärt Sophie Blaser die Methode.
Im Kreis können Kinder ihre Anliegen einbringen, Fragen stellen. Alles hat Platz. Alle haben Platz. Respekt und Toleranz. Sich selbst gegenüber. Aber auch den andern. Das ist Sophie Blaser wichtig. Wenn man sie so erzählen hört, wundert es nicht, dass sie sich nach dem Gymnasium für ein Soziologiestudium entschieden hat. Und nach kurzer Zeit abbrach. Zu trocken. Zu wenig konkret. Sie schwenkte um und besuchte die Pädagogische Hochschule in Zürich. Vor zwei Jahren übernahm sie den Kindergarten in «ihrem» Kreis 3. Hier erlebt sie jeden Tag im Kleinen, was die Welt im Grossen bewegt: Wie eine Gruppe funktioniert. Was sie antreibt. Auseinanderreisst. Zusammenschweisst.
Für Sophie Blaser ist die Schulzeit weit mehr als eine Vorbereitung auf das Berufsleben: «Es geht darum, dass unsere Kinder ein Teil der Gesellschaft werden.» Menschen, die zueinander schauen, die sich unterstützen. Die freiwillig den Nachwuchs im Fussballclub trainieren. Oder zu den Grosseltern schauen. Sophie Blaser plädiert dafür, dass Eltern nicht nur von kleinen Nobelpreisträgerinnen, neuen Mozarts oder fulminanten Bankerkarrieren träumen. «Welche Eltern sagen: Mein Kind soll mal eine Demo organisieren? Dabei wäre dies für eine Gesellschaft genauso wertvoll.»
IM LOCKDOWN. Dass ihre (Beziehungs-)Arbeit mit den Kindern Früchte trägt, hat sie spätestens im Lockdown vor einem Jahr bemerkt. Sie stellte von einem Tag auf den anderen auf regelmässige Anrufe um. Einige Eltern sagten ihr: Mit meinem Kind telefonieren? Vergiss es! Das spricht nicht mal mit den Grosseltern in Spanien. Doch mit Sophie Blaser telefonierte es eine satte halbe Stunde. «Da bemerkte ich: Die Basis stimmt!»
Manche Kinder erzählten von ihrem Alltag daheim. Vom vielen Fernsehgucken. Vom Krach mit den Geschwistern. Mit anderen sprach sie über die Demokratie: Wer denn das Recht habe, einfach die Schulen zu schliessen? Oder vom Vermissen der Grosseltern, die im Ausland leben. Die Bandbreite der Gespräche – aber auch der Situationen, in denen sich die Kinder bewegten – war gross. Das liegt nicht zuletzt an der Durchmischung im Quartier. Hier wohnen Akademikerinnen, Putzmänner, Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Paare. Unter das Züritüütsch mischt sich Russisch, Tamilisch oder Portugiesisch. «Die grosse Vielfalt schätze ich sehr. Im Letzigraben hat die Gentrifizierung zum Glück noch nicht stattgefunden», sagt Sophie Blaser. Ein Land-Chindsgi, wo alle Kinder aus mittelständischen Schweizer Familien stammen, alle Eltern im klassischen Rollenmodell leben und alle Deutsch sprechen: Das könnte sie sich nicht vorstellen. «Das wäre mir zu langweilig!» Man glaubt es ihr aufs Wort.
Sophie BlaserErste Demo im Tragtuch
Das erste Mal demonstrierte Sophie Blaser als Baby am 1. Mai. Die Mutter trug sie mit. Als Kind ging sie mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern regelmässig auf die Strasse. Kämpfte für die Rechte der Arbeiterinnen. Für Lohngleichheit. Und für Frauenrechte. Ihr Vater war jahrelang für die Unia tätig. Das hat Sophie Blaser geprägt: Bereits in ihrer Studienzeit trat sie der Unia bei. Kurz nach Antritt ihrer ersten Stelle wurde sie zudem Mitglied beim VPOD Zürich.
MITREDEN. Seit September 2020 präsidiert die junge Zürcherin dort den Bereich Bildung. Daneben sitzt sie noch im Vorstand des 1.-Mai-Komitees. «Ich ziehe viel Energie aus meiner politischen Arbeit.» Das, was andere langweilt, findet die Zürcherin spannend: Dossierkenntnisse, endlose Diskussionen, Debatten mit politischen Gegnerinnen. «Ich will mitreden. Mitbewegen. Das gefällt mir.»
Sophie Blaser arbeitet 90 Prozent und verdient brutto 86 387 Franken jährlich.
Kindergärtnerin ist doch ein sehr guter Beruf. Ich finde es schade, dass man heutzutage dazu eine Matura braucht. Ok, meine Mutter war im Kindergartenwesen tätig gewesen, auch im schweizerischen Verein und und und. Ihre Generation hat viel erreicht für die Kindergärten und damit für die Kinder. Als Kind waren um mich herum massenhaft Kindergärtnerinnen gewesen.
Früher wurden die Kinder auch gefördert und es wurde nicht „nur“ gespielt. Warum muss man nun dem Beruf Kindergärtnerin irgenwelche Dinge anhängen? Die Qualität im Kindergartenwesen ist sehr hoch gewesen bevor der Beruf umorganisiert wurde und neu Matura erfordert.