Jean Ziegler
Im weissgetünchten Versammlungssaal der Metallarbeitergewerkschaft von São Bernardo do Campo, einem Industrievorort der Megalopolis São Paulo, gibt Luiz Inácio Lula da Silva eine Pressekonferenz. Es ist Mittwoch, der 17. März. Eine Woche zuvor hatte Richter Edson Fachin vom Obersten Bundesgericht in der Hauptstadt Brasília sämtliche gegen ihn gefällten Urteile wegen Mangels an Beweisen und «Willkür» annulliert. Lulas Bart und sein Kopfhaar sind ergraut. Er ist mittlerweile 75 Jahre alt. Aber seine unglaubliche Vitalität, seine Energie, seine klare Sprache und sein analytischer Verstand sind so eindrücklich wie eh und je.
«Genosse, unser Volk wird niemals mehr akzeptieren, in Unterwerfung und Elend zurückzufallen.»
BOLSONAROS GENOZID. Er sagt: «Brasilien wird regiert von einem Präsidenten, der einen wahrhaften Genozid betreibt. Auf der Schwelle der überlasteten Spitäler sterben die Menschen. 3000 Covid-Tote pro Tag.»
Trotzdem bezeichnete der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro die Pandemie bisher lediglich als kleine Grippe und lehnte Impfungen ab. Mit seiner Politik hat er fast einen Drittel der 210 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer in die extreme Armut zurückgestossen. Von 2003 bis 2011 war Lula Präsident Brasiliens. Seine Sozialprogramme verbesserten das Leben von vielen Millionen seiner Landsleute. Jetzt hungern sie wieder.
Die Amtszeit der brasilianischen Präsidenten ist auf acht Jahre beschränkt. Aber nach weiteren vier Jahren können sie wieder kandidieren. Für die Wahlen von 2018 war Lula, der ehemalige Dreher aus der Volkswagenfabrik von São Bernardo, der aussichtsreichste Kandidat. Eine für die brasilianische Oligarchie unerträgliche Perspektive. 2017: Der Richter Sérgio Moro aus Curitiba lässt Lula wegen «Korruption» verhaften. Stichhaltige Beweise gab es nicht. Trotzdem wurde Lula zu neun, in einem zweiten Prozess sogar zu zwölf Jahren Kerker und der Aberkennung der politischen Rechte verurteilt. Damit war er von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Der rechtsextreme Bolsonaro wurde gewählt … und er ernannte Moro zu seinem Justizminister.
DIE RÜCKKEHR? Im nächsten Jahr gibt es wieder Präsidentschaftswahlen. Bolsonaro rechnet offensichtlich mit dem Gegenkandidaten Lula. Nur Tage nach Lulas Auftritt tauschte er mehrere Minister aus, um seine Basis in der politischen Mitte zu verbreitern. Und er leugnete plötzlich die Corona-Katastrophe nicht mehr.
Tritt Lula wirklich an? Er sagt: «Das hängt von der Koalition der progressiven Parteien und den Gewerkschaften unseres Landes ab.» Dabei dürfte nur er in der Lage sein, die Linke wieder zu vereinen. Absehbar ist bereits, dass ihm das gelingt: Einen Konkurrenten aus dem progressiven Lager wird er nicht haben. Seine Wiederwahl ist wahrscheinlich, und sie wäre unglaublich wichtig für alle demokratischen Kräfte, nicht nur in Lateinamerika.
Eine Erinnerung. Im Januar 2004 sass ich zusammen mit meiner Frau Erica im Präsidentenbüro in Brasília Lula und seiner Gattin Marisa gegenüber. Ich fragte: «Acht Jahre sind kurz. Was wird nach Ihnen aus Brasilien?» Lulas Antwort: «Genosse, unser Volk wird niemals mehr akzeptieren, in Unterwerfung und Elend zurückzufallen.»
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.