Die Pandemie macht die Armen ärmer und die Reichen reicher. Und zwar massiv.
CORONA IN GENF: Je benachteiligter ein Quartier, desto länger dauert es, bis sich die Covid-Cluster, also die Ansteckungsherde, wieder auflösen. (Foto: Universitätsspital Genf)
Wer vor der Corona-Pandemie untendurch musste, wird es wohl nachher erst recht müssen. Und wer sorgenfrei lebte, hat womöglich noch mehr Geld auf dem Konto. Der Berner Epidemiologie-Professor und Ex-Präsident der Corona-Taskforce des Bundesrats, Matthias Egger, hat jetzt untersucht, wie sich Corona auf Arm und Reich auswirkt. Sein Team nahm sowohl Tests als auch Spitaleinweisungen und Todesfälle unter die Lupe. Was herauskam, rapportierte kürzlich die «Sonntagszeitung»: Von den zehn Prozent der ärmsten Menschen lagen doppelt so viele Leute auf der Intensivstation wie aus der Schicht der reichsten zehn Prozent. Den Grund dafür sieht Egger in den schlechteren gesundheitlichen und sozialen Voraussetzungen, denen Menschen mit geringen Einkommen ausgesetzt sind. Diese haben zum Beispiel mehr Vorerkrankungen, was wiederum ein Risiko für schwere Covid-Verläufe ist. Ausserdem leben sozial Schwache oft in beengten Wohnverhältnissen, welche die Ansteckung fördern. Und die meisten prekären Jobs lassen sich nicht virenfrei im Homeoffice erledigen.
Soziale Tatsachen bleiben in der Schutzpolitik gegen Covid-19 oft unterbeleuchtet.
KEINE ZEIT FÜRS TESTEN
Soziale Tatsachen bleiben in der Schutzpolitik gegen Covid-19 oft unterbeleuchtet. In den Impfzentren erscheinen hauptsächlich Leute mit Zeit und Musse, die auch mit der digitalen Anmeldung klarkommen, während andere, die Schicht arbeiten müssen oder vom Chef gar nicht freibekommen, seltener zur Coronaimpfung antraben. Läuft die Impfkampagne also an den Unterprivilegierten vorbei? Erreicht sie gerade jene nicht, welche die grössten Gesundheitsrisiken tragen?
Auf diese Gefahr hat die Unia schon früh aufmerksam gemacht. Christine Michel, Fachsekretärin für den Gesundheitsschutz, hält fest: «Die soziale Lage der Menschen spielt in der Pandemie eine grosse Rolle. Menschen mit tiefen Löhnen und in prekären Arbeitsverhältnissen werden überdurchschnittlich hart getroffen.» Zu dieser Erkenntnis gelangen diverse Studien. So eine aus dem Genf Unispital, die nachweist, dass das Virus in ärmeren Quartieren stärker um sich greift als in gehobenen. Die Studie konnte auch nachweisen, dass sogenannte Cluster, also Häufungen von Krankheitsfällen, in ärmeren Quartieren länger präsent bleiben als in reicheren. In Basel fand eine Studie des Unispitals heraus, dass sich das Virus in den reicheren Gegenden weniger stark verbreitete als in den Ballungszentren der Innenstadt, wo es noch viele Altbauten mit tieferen Mieten für Leute mit geringen Einkommen gibt. Überall, wo es eng ist, hat eine Pandemie leichtes Spiel.
REICHE KONNTEN SPAREN
Das Virus verstärkt insgesamt die Ungleichheit. Das sagt auch die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) in einer Studie. Die Haushalte am unteren Ende der Einkommensverteilung seien stärker von der Krise betroffen als Haushalte mit mehr Geld. Wer nur 4000 Franken verdient, wie viele Angestellte in der Gastronomie oder im Detailhandel, musste einen Verlust von etwa 20 Prozent in Kauf nehmen, manchmal gar 50 Prozent. Bei Monatseinkommen von mehr als 16 000 Franken betrug der Rückgang jedoch bloss 8 Prozent. Rund ein Drittel der Befragten aus Haushalten mit Einkommen unter 4000 Franken verloren den Job oder mussten Kurzarbeitsgeld beziehen. Reichere verloren dagegen kaum Geld, sondern konnten dank geschlossenen Läden sogar noch sparen.
Daher fordert die Unia: «Die soziale Gerechtigkeit muss stärker ins Zentrum unseres Diskurses rücken.» Zeit dafür bleibt genug. Denn die Pandemie ist alles andere als vorbei.
Die Studie des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern: www.ispm.unibe.ch