Jean Ziegler
Der deutsche Dichter Johann Peter Hebel schrieb: «Merke: Es gibt Untaten, über welche kein Gras wächst.» Ein Drama erschüttert Brüssel, aus dem viele Lehren gezogen werden können. Die Aktualität wird überlagert vom Schatten der Geschichte.
Ein Blick zurück. Im Wald von Ndola, südlich von Elisabethville, dem heutigen Lumumbashi, werden drei blutüberströmte Gefangene aus einem Lastwagen gestossen. Es sind der kongolesische Ministerpräsident Patrice Emery Lumumba und zwei seiner Minister. Es ist die Nacht vom 17. Januar 1961.
Von dem im ganzen Riesenland verehrten Lumumba sollte keine Spur übrigbleiben.
NUR EIN ZAHN. Der riesige Subkontinent Kongo (über 2 Millionen Quadratkilometer), eine belgische Ex-Kolonie und unerhört reich an Bodenschätzen, war auf Druck der Uno und der einheimischen Aufständischen am 30. Juni 1960 unabhängig geworden. Bereits am 12. Juli organisierten europäische Minengesellschaften die Sezession Katangas, der rohstoffreichsten Provinz. Söldner des Sezessionsstaates entführten Lumumba und seine Mitstreiter. Der belgische Major Weber erstach den gefesselten, von der erlittenen Folter geschwächten Lumumba und seine beiden Minister mit einem rostigen Bajonett. Es war Trockenzeit, und viele Menschen waren im Wald unterwegs. Die belgischen Offiziere beschlossen daher, die Leichen zu zerstückeln und in einem Säurebad aufzulösen. Von dem im ganzen Riesenland verehrten Lumumba sollte keine Spur übrigbleiben.
Ein halbes Jahrhundert später strahlt das belgische Fernsehen eine Sendung über Kongo aus. Eine Frau meldet sich am Telefon. Sie ist die inzwischen 65jährige Tochter eines der belgischen Söldner, die 1961 an der Ermordung Lumumbas beteiligt waren. Sie sagt: «Ich besitze aus dem Nachlass meines Vaters einen Zahn von Lumumba.»
Belgien hat eine unerhört lebendige Zivilgesellschaft, starke Gewerkschaften, eine prinzipientreue sozialistische Partei und sogar eine relativ fortschrittliche katholische Kirche. Die Zivilgesellschaft lancierte eine internationale Petition. Viele Tausend Menschen unterschrieben. Die Petition zwang die belgische Regierung, die sterblichen Überreste – den Zahn – des ermordeten charismatischen Ministerpräsidenten in einer feierlichen Zeremonie Kongo zu übergeben. Staatschef Félix Tshisekedi versprach die Errichtung eines Mausoleums.
ZWEI MILLIONEN TOTE. Internationale Minenkonzerne, darunter Glencore (Sitz in Baar ZG) und Trafigura (Sitz in Genf), beuten Kongo bis aufs Blut aus. Praktisch ohne jegliche Entschädigung. Die von ihnen finanzierten Milizen schützen die Kupfer-, Coltan-, Zinn-, Gold- und Diamanten- Enklaven und richten fürchterliches Leid unter der Zivilbevölkerung an. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno (FAO) sind allein im vergangenen Jahrzehnt zwei Millionen Kongolesinnen und Kongolesen an Unter- und Mangelernährung gestorben.
Wo ist Hoffnung? Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit waren der Horizont der Kämpfe von Lumumba. Das Mausoleum wird im Kollektivbewusstsein der neuen Generation den Widerstandswillen stärken.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
„Belgien hat eine unerhört lebendige Zivilgesellschaft, starke Gewerkschaften, eine prinzipientreue sozialistische Partei und sogar eine relativ fortschrittliche katholische Kirche.“ Das sind so diese Sätze. Aus Schmalz gehauen. Faktenfremd. Dumm zum Fremdschämen.