Die erste Debatte am Kongress entzündete sich an einem einzigen Wort. Und doch ging es um viel mehr.
DEZENTRAL ENGAGIERT: Die Delegierten der Region Zürich-Schaffhausen trafen sich in Zürich zum halbdigitalen Kongress. (Foto: Unia)
Die neue «Strategie 2024» sieht vor, dass die Unia in den «essentiellen Berufen» wächst und mehr Mitglieder gewinnt. Gemeint sind damit Pflege, Logistik und Detailhandel. Wie wichtig diese Dienstleistungsberufe für das Funktionieren einer Gesellschaft sind, hat die Coronakrise gezeigt. Dort will sich die Unia künftig stärker verankern.
Und dann kommt der springende Satz, um den am Kongress heftig gerungen wurde: «Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir unsere Kräfte gezielt in diesem Bereich – insbesondere in der Pflege – einsetzen.»
«Wir müssen auch die bisherigen Bereiche weiter stärken!»
GEWERKSCHAFTSWÜSTE
Unbestritten ist: die Pflegeberufe brauchen dringend eine Aufwertung. Auch und gerade in der privaten Pflege, wo sich internationale Konzerne breitmachen. Unia-Chefin Vania Alleva sagt es im work-Interview so: «Hier sind die Arbeitsbedingungen zum Teil mehr als prekär. Die Profite der Aktionäre werden auf dem Buckel der Mitarbeitenden gemacht» (das ganze Interview: rebrand.ly/vaniawork). Und in der privaten Pflege herrscht Gewerkschaftswüste.
Unbestritten ist auch: Die Unia will mehr Frauen als Mitglieder gewinnen.
Doch wie «insbesondere» soll das sein? Die Region Zentralschweiz wollte das «insbesondere in der Pflege» ersetzen durch ein «auch in der Pflege». Denn ein Schwerpunkt in der Pflege berge die Gefahr, andere Branchen zu vernachlässigen. Schreinerin Chantal Spichiger erklärte: «Wir müssen aber auch die bisherigen Bereiche stärken, zum Beispiel das Schreinergewerbe oder auch den Bau.» Die Diskussion war eröffnet.
«Falsch!» fand Dorette Balli-Straub von der Region Oberaargau-Emmental, denn die Unia brauche in der Pflege unbedingt eine «Trendwende». Weil die Pflegenden bis jetzt praktisch nur durch Berufsverbände vertreten würden, nicht durch Gewerkschaften. Und die Unia brauche auch dringend mehr Frauen. Also unbedingt «insbesondere in der Pflege». Ins gleiche Horn blies auch Pflegerin Silvia Dragoi. Sie argumentierte: «Wenn wir als Gewerkschaft stärker werden wollen, können wir uns nicht darauf beschränken, die Kollegen zu verteidigen, die schon einen GAV haben.»
STATUS QUO STATT VORWÄRTS?
Am Ende gab die Kongressmehrheit Schreinerin Spichiger recht: Mit 123 zu 111 entschied sie sich für die Formulierung: «auch in der Pflege».
Was heisst diese Abschwächung der Formulierung nun für die konkrete Arbeit der Unia? Statt eines Aufbruchs der Status quo? Véronique Polito von der Geschäftsleitung sagt: «Wir werden die bestehenden GAV verteidigen und verbessern, wie dies der Kongress bestätigt hat. Und wir werden die begonnene Aufbaustrategie fortsetzen. In der Pflege und, je nach Entwicklung, auch in anderen essentiellen Berufen.»