Der Logistiker Adil Belakhdim kämpfte für würdige Arbeitsbedingungen – und wurde dafür getötet. Jetzt stehen Italien heisse Zeiten bevor.
«WIR ALLE SIND ADIL»: Solidaritätsdemo für Gewerkschafter Adil Belakhdim, der bei einem Streik brutal ums Leben kam. (Foto: Renato Ferrantini)
Die Katastrophe passiert am 18. Juni, am «sciopero nazionale della logistica», dem italienweiten Logistikstreik. Ob Chauffeure, Lageristinnen oder Paketabfertiger – zu Tausenden legen sie ihre Arbeit nieder. Etliche Verteilzentren und Versandlager stehen still – ganz besonders im Industriedreieck zwischen Mailand, Genua und Turin. Umso mehr Bewegung ist vor den Werkstoren, wo sich die Streikenden versammeln. So auch im piemontesischen Dorf Biandrate, wo Lidl ein Warenlager betreibt. Dort haben sich frühmorgens gegen 40 Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer Menschenkette aufgereiht. Um allfällige Streikbrecher zu blockieren.
Kurz vor Mittag braust ein Lastwagen heran, der Fahrer ist im Stress und weigert sich umzudrehen. Die Streikenden reden ihm zu, versuchen ihn für die Sache zu gewinnen. Doch der Fahrer flucht nur. Dann plötzlich drückt er aufs Gas. Frontal durchbricht sein 40-Tönner die Menschenkette. Zwei Gewerkschafter werden gerammt. Ein weiterer wird vom LKW seitlich erfasst und zehn Meter über den Asphalt geschleift. Regungslos bleibt er liegen. Es ist Logistiker Adil Belakhdim. Er stirbt an Ort und Stelle – in den Armen seiner Kollegen.
Aus Solidarität stehen die Fabriken von Electrolux, Ferrari oder Bosch still.
ITALIENS NEO-PROLETARIAT
37 Jahre alt wurde Adil Belakhdim. Er hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. Aus Marokko kam er fürs Studium nach Italien. Doch für die Hochschule fehlte ihm zunächst das Geld. Und so landete Belakhdim in der Logistikbranche. Dieser schnell wachsende Markt ist zugleich einer der umkämpftesten. Und zwar nicht erst seit Corona. Der globalisierte Kapitalismus machte Italien zu einer zentralen Nord-Süd-Achse im weltweiten Güterverkehr. Abermals wuchs die Bedeutung der Logistikdrehscheibe mit den Kriegswirren im Maghreb und im Nahen Osten, die auf den Arabischen Frühling folgten. Heute ist der Stiefel quasi die Verlängerung des Suezkanals – und das Tor zu Kontinentaleuropa. Und heute geben die Multis den Ton an, beinharte Konkurrenten wie Fedex, DHL oder DLS. Sie lagern den Grossteil der Schwerstarbeit an lokale Subunternehmen aus. Diese rekrutieren ihr Personal hauptsächlich unter Nicht-EU-Bürgern, Flüchtlingen oder Sans-papiers – primär Männer aus dem Maghreb, die unter prekären Verhältnissen leben müssen. So wie Belakhdim.
TREUER GEWERKSCHAFTER
Er heuerte bei einer Firma an, die für den Lieferdienstgiganten TNT Pakete sortiert. Konfrontiert mit den miesen Arbeitsbedingungen, trat Belakhdim der jungen Gewerkschaft Sicobas bei und warf sich mit aller Energie in ihre Arbeitskämpfe. Sein Anwalt erinnert sich: «Adil war ein standhafter Mann, ein treuer Kollege, der davon träumte, die Arbeitenden jeder Nationalität zu vereinen.» Bald wurde Belakhdim zum Sicobas-Koordinator für die Region Novara gewählt. Nun ist er ebendort gestorben.
Ein Kollege erklärte in der Tageszeitung «Corriere della sera»: «Adil ist gestorben, weil er der Überzeugung war, dass man mit 850 Euro im Monat nicht leben kann, weil es für uns weder Schutz noch Privatleben gibt, weil die Schichten immer im letzten Moment vergeben werden, weil die Capos deine Ferien bestimmen, weil sie dich eine ganze Woche zu Hause lassen, wenn du einmal um Erlaubnis fragst, dein Kind von der Schule abzuholen, weil die Arbeit 13 statt 8 Stunden dauert, weil du mitten in der Nacht für den nächsten Morgen aufgeboten wirst. Adil ist gestorben, weil er es für richtig hielt, dagegen zu protestieren.» Und damit war Belakhdim nicht allein.
«Adil ist gestorben, weil er gegen Ausbeutung protestierte.»
CHEFS MIT SCHLÄGERTRUPPE
Die Nachricht von seinem Tod verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Als erste Reaktion legen die Streikenden die Lidl-Filiale komplett lahm. Dann fasst die Polizei den flüchtigen LKW-Fahrer auf einer Autobahnraststätte. Sie spricht zunächst von einem «Verkehrsunfall», an dem dieser beteiligt gewesen sei. Ein Hohn für Sicobas, die auf das «geschürte Klima der Aggression» verweist. Tatsächlich sind Gewerkschaftsaktionen jüngst wiederholt von Schlägertrupps angegriffen worden – manchmal sogar unter den Augen der Polizei. Als Auftraggeber vermutet Sicobas die Subunternehmer. Diese Eskalation ist auch Premierminister Mario Draghi aufgefallen. Noch am Todestag fordert er «unverzügliche Aufklärung».
Dies, und noch viel mehr, wollen auch die über 10’000 Menschen, die tags darauf in Rom demonstrieren. Die Stimmung ist aufgeheizt, immer wieder brechen Kollegen des Getöteten in Tränen aus und schreien sich ihre Wut aus dem Leib. Polizei in Kampfmontur steht bereit. Doch weitere Gewalt bleibt aus.
SOLIDARITÄTS-STREIKS
Die Welle der Empörung aber ebbt nicht ab: Schon am Montag nach der Attacke stehen in der Region Emilia-Romagna über 20 Fabriken still. Darunter solche von Electrolux, Piaggio, Ferrari, Maserati und Bosch. Denn die Mitglieder der mächtigen Metallergewerkschaft Fiom haben spontan zu Solidaritätsstreiks aufgerufen. Das hat auch in Italien Seltenheits-Charakter. Einige Tage später mobilisiert die Fiom offiziell und erneut zu einem zweistündigen Proteststreik. Auch das ist nicht selbstverständlich in der teils verfeindeten Gewerkschaftslandschaft. Doch die Bluttat an Belakhdim scheint etwas aufgebrochen zu haben. Jedenfalls schmiedet ein neues Gewerkschaftsbündnis bereits an einer neuen «Kampffront» – und zwar an einer, die laut Sicobas, «so schnell wie möglich einen wirklichen Generalstreik organisieren kann».