Es ist der radikalste Klimawandel seit Jahrmillionen. Und er schreitet schneller voran als angenommen. Das zeigt der neue Weltklimabericht. Doch der Zug ist noch nicht ganz abgefahren.
Was für ein Juli war das denn?! Erst Dauerregen, dann Rekordniederschläge, schliesslich Felsstürze über Bahngleise, Erdrutsche über die Gotthardroute, Überschwemmungen und verheerende Sturm- und Hagelschäden. Zur gleichen Zeit im südlichen Mittelmeerraum: Beginn einer erbarmungslosen und teils bis heute anhaltenden Hitzewelle. Schon nach einer Woche mit Temperaturen um 40 Grad Celsius loderten allein in Griechenland über fünfzig Waldbrände. Auf der Insel Euböa hatte das Inferno im Nu eine Fläche in der Grösse des Kantons Obwalden zerstört. Weitere Brände wüteten bereits in Albanien, Italien und besonders der Türkei. Dort hatten die Flammen schon acht Menschen getötet und über 800 verletzt. So die Zwischenbilanz vom 9. August, jenem Tag, an dem der Weltklimarat (IPCC) in Genf an die Öffentlichkeit trat – mit der ersten Tranche seines neusten «Sachstandsberichts».
Die Schweiz erwarten Dürren, heftigere Niederschläge, deutlich
mehr Hitze.
NETTO NULL EIN MUSS
Das fast 4000 Seiten starke Dokument fasst den aktuellsten wissenschaftlichen Kenntnisstand über den menschlichen Einfluss auf das Erdsystem zusammen. Hierzu haben seit dem letzten Bericht von 2013 mehr als 230 Forschende rund 14 000 Studien und neu erschlossene Klimaarchive ausgewertet. Das Resultat ist ein noch nie dagewesener Überblick über die klimatischen Veränderungen in der Erdgeschichte. Und ein präziser Ausblick auf die zu erwartenden Zukunftsszenarien. Wegweisend sind beide – und in höchstem Masse alarmierend!
So ging die Wissenschaft bis anhin davon aus, der Temperaturanstieg von 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter werde 2040 erreicht sein. Nun aber korrigiert der Weltklimarat: Schon in neun Jahren sei es so weit. Für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens mit seinem 1,5-Grad-Ziel wird es demnach noch enger.
Die Forschenden warnen daher so deutlich wie noch nie: Wenn die Treibhausgasemissionen nicht «stark und anhaltend» reduziert würden, sei die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad nicht realisierbar. Noch konkreter macht es der Zürcher ETH-Forscher Erich Fischer, der den Bericht mitverfasst hat: «Nur wenn der Kohlendioxidausstoss schon in den nächsten Jahren stark sinkt und bis Mitte Jahrhundert netto null erreicht, kann die globale Erwärmung mit mehr als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit auf unter 1,6 Grad und höchstwahrscheinlich unter 2 Grad beschränkt werden.» Bloss: Laut IPCC-Bericht werden Starkniederschläge und Hitzewellen auch im besten erwartbaren Fall und bereits in nächster Zeit häufiger auftreten und Intensitäten von bisher ungekanntem Ausmass erreichen. Dies gelte gerade für die Schweiz. Schon jetzt sei hier die Temperatur etwa doppelt so stark angestiegen wie im globalen Mittel. Und laut Meteo Schweiz, das den Bericht ausgewertet hat, werden wir uns in jedem Fall wappnen müssen: Uns erwarteten nämlich Dürren, heftigere Niederschläge, eine deutlich steigende Hitzebelastung und ein weiterer Anstieg der Nullgradgrenze mit Folgen für Schneedecken und Permafrost. Letzteres etwa bedroht eine Reihe von Berggemeinden und Wintersportgebieten existentiell.
Der Weltklimarat weist auch darauf hin, dass viele der jüngsten Klimaveränderungen «seit Tausenden, wenn nicht Hunderttausenden von Jahren» nicht mehr vorgekommen seien. Und einige dieser Trends seien während mindestens Jahrhunderten nicht mehr umzukehren. So steige der Meeresspiegel in den nächsten 80 Jahren um mindestens 60 cm. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn bis 2050 Klimaneutralität erreicht werde. Falls man hingegen weitermache wie bisher, sei sogar mit einem Anstieg von über einem Meter zu rechnen. Heisst: Landunter für ganze Küstenabschnitte, etwa jenen um Venedig, und jährliche Überschwemmungen in Städten wie Amsterdam, Hamburg oder London.
HOFFNUNGSSCHIMMER
Abermals benennt der von allen 195 Mitgliedstaaten gutgeheissene Bericht auch die Hauptursache für den verheerenden Klimawandel: den Menschen. Präziser wäre: dessen Produktionsweise und Konsumverhalten unter kapitalistischen Vorzeichen. So sagt Gian-Kaspar Plattner von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und IPCC-Leitautor: «Der Bericht zeigt, dass 2019 die atmosphärische CO2-Konzentration 47 Prozent höher war als zu Beginn der Industrialisierung.» Der Mensch ist es aber auch, der die totale Katastrophe noch verhindern kann. Auch das betont der Klimabericht. Dazu brauche es aber «sofort, schnell und in grossem Umfang» eine Reduktion der Treibhausgasemissionen. So lasse sich die Luftqualität «rasch» verbessern und die Temperaturen in 20 bis 30 Jahren stabilisieren. Immerhin.
«Das Krasse ist ja, dass die aufgezeigten Entwicklungen seit Jahrzehnten bekannt sind – und ebenso, wie man die Katastrophe abwenden könnte. Dennoch hat es mich aufs neue schockiert zu lesen, wie bedrohlich die Lage ist, wie wenig Zeit uns für die Trendwende bleibt und wie glasklar die wissenschaftliche Beweisführung dafür ist.
SOZIAL-AUSBAU: Nun muss sofort alles getan werden, um die Treibhausgasemissionen auf netto null zu senken. Dazu braucht es Milliarden an öffentlichen Investitionen: für die Dekarbonisierung des Verkehrs, die Gebäudesanierung, den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien sowie für Forschung und Entwicklung. Der private Sektor wird diese Herausforderung nicht stemmen, denn er ist auf Gewinne fixiert. Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter müssen dafür sorgen, dass bei diesem Umbau das Soziale nicht unter die Räder kommt. Die Klimawende braucht sogar einen Ausbau des Sozialen! Etwa in Form von staatlichen Jobgarantien für Menschen, die aufgrund der Transformation ihre Arbeit verlieren würden. Zudem müssen umweltverträgliche Technologien allen zugänglich werden. Auch eine Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) trägt zur raschen Reduktion der CO2-Emissionen bei.»
Peppina Beeli ist Co-Verantwortliche für Klimapolitik bei der Unia.
Klima-Klage Etappensieg für die Klimaseniorinnen
GEGEN DEN BUNDESRAT: Kämpferische Klimaseniorinnen. (Foto: Keystone)
Hitze ist für ältere Frauen besonders gefährlich. Davon sind die Klimaseniorinnen überzeugt. Der Verein von mittlerweile 1900 Rentnerinnen aus der ganzen Schweiz beschäftigt sich intensiv mit den Gefahren der Klimaerhitzung für die Gesundheit. Und mit dem, was der Bundesrat zum Schutz der Bevölkerung tut – oder eben nicht tut. Co-Vereinspräsidentin Anne Mahrer (73) sagt: «Unsere Regierung hat nicht ausreichend Massnahmen getroffen und bringt dadurch die Gesundheit der Bevölkerung in Gefahr, im speziellen die Gesundheit von uns älteren Frauen.» Dass Seniorinnen stärker betroffen seien als andere Gruppen, ist nicht nur ein Erfahrungswert. Schon 2011 wies die Weltgesundheitsorganisation (WHO) darauf hin, dass Frauen infolge von Hitzewellen öfter sterben als Männer. Und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hält fest: «Ältere Menschen sind die von Hitzewellen am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe.» Bloss der Bundesrat scheint nicht gewillt, daraus die logischen Schlüsse zu ziehen.
BILLIGE BEHAUPTUNGEN. So stellten die Klimaseniorinnen schon 2016 ein Begehren an die Landesregierung: Sie solle die «Unterlassungen im Klimaschutz» beenden. Auf das Gesuch trat der Bund nicht einmal ein. Dagegen wehrten sich die Frauen beim Bundesverwaltungsgericht – und blitzten auch da ab. Ebenso beim Bundesgericht in Lausanne. Also gelangten die Seniorinnen an den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte (EGMR) in Strassburg. Ihr Argument: Der Bund verletze ihr Recht auf Leben und Gesundheit, das Recht auf ein faires Verfahren vor einem Gericht sowie das Recht auf eine wirksame Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz. Im März dann die Überraschung: Strassburg nahm die Klage an, behandelte sie sogar prioritär und forderte Bern zu einer Stellungnahme auf. Nun sei diese eingetroffen, berichtete die «Sonntagszeitung». Im noch unter Verschluss gehaltenen Schreiben lehne der Bundesrat das Anliegen der Klimaseniorinnen rundweg ab. Offenbar mit billigen Behauptungen: 1. Die Schweizer Klimapolitik sei genügend. 2. Frauen seien nicht speziell benachteiligt. 3. Keine Personengruppe sei in einer Art betroffen, die zur Klage berechtige. Und 4. spiele es keine Rolle, ob die Schweiz handle oder nicht – die Betroffenheit durch den Klimawandel bleibe so oder so. work bleibt dran.
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