Unter Druck, aber zäh: Gewerkschaften zählen weltweit weiterhin zu den grossen und mächtigen Organisationen. Das zeigt die neue Forschung.
KÄMPFERISCH: Im Oktober und November 2018 gingen wie hier in Lausanne Tausende Bauarbeiter auf die Strasse. Das Resultat: ein erneuerter Landesmantelvertrag, mehr Lohn und eine sichere Rente mit 60. (Foto: Unia / Lucas Dubuis)
Was läuft bei den Gewerkschaften? Das fragte sich der deutsche Arbeitsmarktforscher Claus Schnabel. Dazu sichtete er zahlreiche Studien und Daten zum Thema.* Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Herausgekommen sind interessante Befunde. Denn auch die Gewerkschaften müssen sich den grossen Umbrüchen der Zeit stellen: Globalisierung, Digitalisierung, rascher Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft. Das verursacht viel Druck.
Seit 1980 büssten die Gewerkschaften in 16 von 25 untersuchten Ländern ein. In Deutschland verloren sie 37 Prozent ihrer Mitglieder, in Österreich 30, in Italien 14 und in der Schweiz 20. Mit 46 Prozent mussten die britischen Gewerkschaften einen der grössten Verluste hinnehmen. Gegen sie führte die neoliberale Regierung Thatcher in den 1980er Jahren einen regelrechten Krieg. Handkehrum gibt es aber auch Länder wie Norwegen, Belgien oder Dänemark, in denen die Gewerkschaften zulegen konnten.
In Norwegen und Belgien legten die Gewerkschaften zu.
PROBLEM TEMPORÄRJOBS
Parallel dazu sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit 1980 in 23 von 25 Ländern – in der Schweiz um 10 Prozent, in Schweden um 14, in Italien um 15 und in Deutschland um 18. Ausnahmen sind lediglich Spanien und Chile. Dort sind die Gewerkschaften heute besser verankert als vor vierzig Jahren.
Für den Rückgang wird hauptsächlich der Umbruch von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft verantwortlich gemacht. Die Ausbreitung von neuen Beschäftigungsformen wie Temporärjobs oder Arbeit auf Abruf stellt die Gewerkschaften vor Probleme. Erfahrungsgemäss sind Leute in solchen Jobs schwerer zur rekrutieren als Vollzeitarbeitende in Stammbelegschaften. Autor Claus Schnabel übt aber Kritik: Der Einfluss dieses Umbruchs werde wohl überschätzt, meint er mit Blick auf Gewerkschaften, die den Wandel recht gut meistern. Für Schnabel sind die Folgen der Globalisierung wichtiger, zum Beispiel die massenhafte Auslagerung von Jobs in Billiglohn-Länder.
Schnabel untersuchte auch die Praxis von Lohnverhandlungen sowie die Abdeckung der Beschäftigten mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV). Hier gibt es grosse Unterschiede. Einige Länder wie Griechenland, Grossbritannien oder Irland stehen heute bezüglich GAV viel schlechter da als vor vierzig Jahren. So auch Deutschland, wo die Tarifverträge just in der Ära von SPD-Kanzler Gerhard Schröder stark zurückgingen. In anderen Staaten hielt sich das GAV-System jedoch gut, so in Luxemburg, Belgien oder Österreich. Einige konnten den Abdeckungsgrad mit Kollektivverträgen sogar steigern, etwa Portugal oder Schweden, aber auch Frankreich, das beim Zuwachs sogar Spitzenreiter ist. Die Schweiz ist diesbezüglich stabil unterwegs. Als einziges Land in der Gruppe mit ähnlichen Verhältnissen verzeichnet es praktisch keine Einbussen (siehe Text unten).
Dabei werden Kollektivverträge ganz unterschiedlich verhandelt: vorwiegend auf lokaler oder betrieblicher Ebene, dann aber auch für ganze Wirtschaftssektoren oder teils sogar überwiegend national wie in Schweden oder Dänemark. In der Schweiz dominieren GAV für ganze Wirtschaftszweige (Bau, MEM-Industrie, Gastgewerbe usw.). Autor Schnabel zeigt, dass sich Kollektivverträge besser halten, je zentraler sie ausgehandelt werden. Oder umgekehrt: Je mehr nur lokal oder auf Betriebsebene verhandelt wird, desto schlechter fällt der Abdeckungsgrad für die Beschäftigten aus.
NACHWUCHS FEHLT
Was folgt daraus? Schnabel stellt klar, dass Gewerkschaften entgegen bürgerlichen Schwanengesängen weiterhin zu den grossen und auch mächtigen Organisationen zählen. «Sie haben erstaunliche Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit bewiesen», so der Autor anerkennend. Als aktuelles Hauptproblem nennt er die Rekrutierung von Personen, die nicht in festen Jobs arbeiten. Weiter müssten die Gewerkschaften vermehrt Junge gewinnen. Daten zeigen nämlich, dass der Hauptharst der Mitglieder in den Vierzigern und Fünfzigern ist, während Junge und Ältere untervertreten sind.
* Claus Schnabel, Union Membership and Collective Bargaining: Trends and Determinants. Institute of Labor Economics, Bonn 2020, iza.org.
GAV-System:Seco lobt Gewerkschaften
Fast die Hälfte der Beschäftigten in der Schweiz sind durch Gesamtarbeitsverträge (GAV) geschützt. Und das seit vielen Jahren. Dies schätzt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) für das Jahr 2018. Genau lässt es sich nicht sagen, da es davon abhängt, welche Mitarbeitenden man als «unterstellbar» definiert. Die OECD kommt wegen einer leicht anderen Schätzmethode auf 45 Prozent. Diese Abdeckung ist stabil, was international auffällt. Denn in vielen anderen Ländern ist die Abdeckung teils stark zurückgegangen. Die Schweiz büsste jedoch nur 3,1 Prozentpunkte ein.
Die Schweiz ist das einzige Land, das den GAV-Abdeckungsgrad steigern konnte.
STEIGERUNG. Gemäss OECD sind wir das einzige Land, das den Abdeckungsgrad seit den nuller Jahren sogar noch steigern konnte. 2003 waren erst ein Viertel der Beschäftigten einem GAV unterstellt. Dies ist auch dem Mechanismus der Allgemeinverbindlicherklärung zu verdanken. Es ist aber vor allem ein gutes Zeugnis für die Gewerkschaften. Denn darin widerspiegelt sich der erfolgreiche Kampf für die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit.
Das Seco, sonst eher als Hort der Marktgläubigen bekannt, titelt denn auch in einem Beitrag in der hauseigenen Zeitschrift «Die Volkswirtschaft»: «Gesamtarbeitsverträge trotzen dem Strukturwandel.» Heute gibt es in der Schweiz 581 Gesamtarbeitsverträge. Ihnen sind rund zwei Millionen Beschäftigte unterstellt. Das sind zwar weniger Verträge als in den 1990er Jahren, jedoch mit mehr Arbeitnehmenden, die den Schutz der Arbeitsbedingungen und Löhne geniessen. Die Unia stellt als grösste Gewerkschaft den Löwenanteil: Sie unterhält 265 GAV mit insgesamt 1,4 Millionen Beschäftigten.