Das Streik-Revival

Andreas Rieger

Seit Februar erleben wir ein bemerkenswertes Streik-Erwachen in Europa. Am häufigsten legen Beschäftigte im Transportsektor die Arbeit nieder. Lohnabbau und Entlassungen drohen zum Beispiel den Mitarbeitenden im Luftverkehr. Diese streiken in Italien, den Niederlanden und in Belgien. Stockende Lohnentwicklung und eine hohe Belastung wegen der Corona-Massnahmen erleben derzeit auch die Bähnlerinnen und Bähnler. Sie verlangen dafür Kompensation und streiken in Frankreich, Belgien und Kroatien. Auch die deutschen Lokführer der Gewerkschaft GDL streiken für eine substanzielle Lohn­erhöhung. Viel Mehrarbeit in der Corona­krise hatten auch die Arbeitenden im boomenden Online-Handel. Sie standen sich monatelang die Beine in den Bauch und schoben Überstunden – meist ohne jeden Zuschlag. Kein Wunder streiken sie nun bei Amazon, Ikea, Carrefour etc.

Bahnstreiks, Online-Handel-Streiks und Spitalstreiks in der Coronakrise.

PFLEGE. Unter einer Riesenbelastung durch Corona ächzen auch die Beschäftigten in den Spitälern, Alters- und Pflegeheimen sowie Krippen. Mehr Schwerkranke, mehr Sicherheitsmassnahmen, Ausfall von kranken Kolleginnen und Kollegen – all dies lastet zentnerschwer auf ihnen. Die Leute klatschten ihnen zwar Beifall, bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen blieben bisher aber aus. Dafür rollt jetzt die vierte Coronawelle an und mit ihr noch mehr Stress für die Pflegenden (siehe auch Seite 4). Die Branchen «Care» und «Childcare» stehen deshalb zuoberst auf der Streikliste. Arbeitsnieder­legungen von Pflegenden, aber auch von Ärztinnen und Ärzten gab’s in den Niederlanden, in Norwegen, Polen, Belgien und
Österreich.

BRISANTES URTEIL. Ein Streik-Höhepunkt sind nun die mehrtägigen Warnstreiks in Berlin am Universitätsspital Charité und in den Vivantes-Stadtspitälern (siehe Artikel rechts). Neben den Forderungen nach materieller und vertraglicher Besserstellung des Hilfspersonals steht die Aufstockung der Stellenpläne im Zentrum des Arbeitskampfs.

Europa bewegt sich also doch! Und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Pünktlich zum Streik­revival hat er im Fall eines umstrittenen ­Arbeitskampfs in Norwegen ein wegweisendes Urteil gefällt. Er hält fest, dass das Recht der Arbeitenden auf Arbeitskämpfe dem Recht auf uneingeschränkte Geschäftsausübung der Firmen im europäischen Binnenmarkt übergeordnet ist. Wenn das keine guten Nachrichten sind!

Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschafts­bewegung aktiv.

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