Und wieder müssen sie alles geben: Die Stimmung unter den Pflegenden ist angespannt, auch weil sich nichts ändert.
INTENSIVPFLEGERIN SELMA GRADINICIC: «Wir dachten, jetzt muss es doch mehr Stellen geben. Vielleicht es bitzeli mehr Lohn. Aber nein, nichts ist geschehen, gar nichts!» (Foto: Michael Schoch)
Eine 12-Stunden-Schicht, das ist seit Anfang der Coronazeit keine Seltenheit für Intensivpflegerin Selma Gradinicic. Und immer in Schutzkleidung. Sie sagt: «Darunter schwitzt man und bekommt Hautausschlag. Das sollten alle mal erleben!» Die 38jährige Bündnerin, die als Temporäre quer durch die Schweiz in Intensivstationen aushilft, macht sich Luft. Am Anfang hätten die Leute als Dank noch geklatscht, «jetzt heisst es nur noch: Macht einfach weiter!»
Unia-Mitglied Gradinicic erinnert sich noch genau an den Moment, als ihr Frust plötzlich grösser wurde als ihr Pflichtbewusstsein. Die zweite Welle war gerade vorüber, «da dachten wir, jetzt muss es doch mehr Stellen geben. Vielleicht es bitzeli mehr Lohn.» Aber nein, nichts sei geschehen, gar nichts! Gradinicic fühlt sich erschöpft und verschaukelt. Sie hat drum auf 50 Prozent reduziert.
Auch Susanne B. mag nicht mehr. Sie steckte sich bei der Arbeit mit Corona an. Und nach einem Betriebsunfall braucht sie nun ständig Schmerzmittel: «Ich bin voll auf Voltaren und Ponstan», sagt die Pflegerin, die in einem Aargauer Altersheim arbeitet. «Lieber heute als morgen» würde sie den Beruf an den Nagel hängen, wenn sie könnte. Aber sie muss noch durchhalten bis zur Pensionierung.
Bereits die Reissleine gezogen hat Martha Frei *. Sie arbeitete in der ersten Welle auf einer Coronastation, steckte sich an und erkrankte schwer. Nach drei Wochen wurde sie wieder zur Arbeit eingeteilt. Und dies, obwohl sie noch immer stark hustete. Der Druck der Stationsleitung sei immens gewesen, sagt sie: «Es mussten genügend Leute her für den Dienstplan.» Heute ist sie nicht mehr im Beruf.
Aktuell sind über 90 Prozent der wegen Corona Hospitalisierten ungeimpft.
INTENSIVSTATIONEN AM ANSCHLAG
Der Berufsverband der Pflegenden SBK berät aktuell viele, die aus dem Beruf aussteigen wollen oder aussteigen müssen. Barbara Dätwyler, Präsidentin der SBK Ostschweiz, sagt: «Es gibt Stationen, bei denen bis zu 50 Prozent der Mitarbeitenden gegangen sind.» Das spüren auch die Intensivstationen. Viele sind bereits am Anschlag. Und das, während gleichzeitig die vierte Coronawelle herandonnert.
Das Berner Inselspital musste eine kürzlich eröffnete neue Intensivabteilung wieder schliessen, weil es nicht genug qualifiziertes Personal fand. Und Intensivpflegerin Gradinicic sagt: «In einem Spital können wir von 22 Intensivbetten nur 12 benutzen, weil es zu wenig Personal hat.» Sie bekommt täglich mehrere Jobangebote.
Jetzt behelfen sich die Spitäler und schicken Pflegende aus anderen Abteilungen in die Intensivstationen. Doch das ist nicht nur eine Entlastung. Intensivpfleger Rolf Weber * sagt: «Ich kann einem Kollegen schon eine Patientin geben. Aber wenn sie instabil wird, weiss er nicht, was zu tun ist.» Die Folge: Er, der Intensivpfleger mit Zusatzausbildung, ist jetzt zeitweise statt für einen Patienten gleich für mehrere zuständig.
SIE HABEN’S NICHT BEGRIFFEN
Und dann kommt noch der Frust hinzu, dass viele schwere Corona-Verläufe vermieden werden könnten. Beat Wyss *, Anästhesiepfleger am Unispital Zürich, stellt «ein wachsendes Unverständnis» für gewisse Leute fest. Sie hätten immer noch nicht begriffen, dass sie mit einfachen Massnahmen – Abstand, Maske, Verzicht auf Reisen – viel gegen die Pandemie tun könnten. Und auch mit der Impfung. Aktuell sind über 90 Prozent der wegen Corona Hospitalisierten ungeimpft. Barbara Dätwyler vom SBK sagt: «Als Privatperson macht man sich natürlich Gedanken darüber. Aber öffentlich sagen würden die meisten Pflegenden das nie. Das ist Teil des Berufsethos.» Das sieht auch Selma Gradinicic so. Mit Nachdruck sagt sie, das Gesundheitssystem beruhe auf Solidarität: «Wir pflegen auch den Töfffahrer, der zu schnell gefahren ist. Es ist mein Beruf.»
* Namen geändert
Initiative: Mehr Geld für die Pflege!
Nicht erst seit Corona ist klar: Es braucht mehr Personal und bessere Löhne in der Pflege. Doch die Spitäler und Heime müssen ein Budget einhalten oder sogar Gewinn abliefern. Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Pflegeverbandes SBK, sagt: «Unser Gesundheitssystem hat ein strukturelles Problem. Die Spitäler und Heime bekommen von den Krankenkassen und der öffentlichen Hand nicht genügend Geld für die Pflegeleistungen, um wirklich bessere Arbeitsbedingungen zu finanzieren.»
BOTSCHAFTERINNEN & BOTSCHAFTER. Genau das fordert unter anderem die Pflegeinitiative, über die wir am 28. November abstimmen. Für die Abstimmungskampagne sucht die Unia derzeit Botschafterinnen und Botschafter, die ihre Kolleginnen und Kollegen im Heim zu einem Ja an der Urne bewegen. Schon 65 Pflegende machen mit!
www.unia.ch/pflegeinitiative