Corona und Gesundheitswesen: SGB-Chef ­Pierre-Yves Maillard fordert Investitionen
«Langzeitplanung statt Kurzfristdenken»

Service public funktioniere im Gesundheitswesen nur mit gezielten Über­kapazitäten in den Spitälern, sagt Maillard, der in der Waadt Gesundheitsminister war. Das zeige die Corona­krise.

IN AKTION: Pierre-Yves Maillard nimmt 2019 an einer Demo teil für einen entlassenen Gewerkschafter im Vallée de Joux VD teil. (Foto: Keystone)

work: Wir erleben im Moment schon die vierte Coronawelle, wie viele kommen noch, Pierre-Yves Maillard?
Pierre-Yves Maillard: Oh, keine Ahnung, vielleicht stehen wir am Ende, vielleicht auch erst am Ende des Anfangs. Wir wissen es nicht. Klar ist: so schnell verschwindet so ein Virus nicht. Und ebenfalls klar ist: in solchen Krisen verhalten sich die Stärkeren immer rücksichtslos gegenüber den sozial Schwächeren. In Krisen müssen immer Sündenböcke her, Schuldige. Und die werden dann stigmatisiert. Das zeigt die Geschichte. Im Moment werden die Kosovaren und Balkanreisenden zu solchen Corona-Sündenböcken gemacht. Letztes Jahr mussten die Jungen herhalten, die Parties feierten, oder die Älteren, die draussen spazierengingen. Das ist gefährlich, da müssen wir als Gewerkschaften wachsam sein. Was es jetzt besonders braucht, ist Rationalität und Respekt.

Auch Toleranz gegenüber Verschwörungstheoretikern?
Wahnsinnige Theorien gibt es immer, aber längst nicht alle Ungeimpften glauben an wahnsinnige Theorien. Vielleicht haben sie nur nicht genügend Informationen. Man muss halt mit den Leuten reden!

Ich bitte Sie darum!
Wir Gewerkschaften fordern einfach, dass alle, die sich impfen lassen wollen, das auch problemlos tun können. Zum Beispiel, dass Impfzeit als Arbeitszeit angerechnet wird. Wir unterstützen alles, was das Impfen erleichtert.

Sind Sie geimpft?
Ja.

«Wir haben heute weniger Intensivbetten als im Herbst 2020.»

Schon wieder sind die Intensivstationen am Anschlag. Es fehlt an Betten und an ausgebildeten Pflegenden. Sie waren mal Gesundheits­minister in der Waadt: Planen Spitäler und Kantone schlecht?
Die Pandemie zeigt jene strukturellen Probleme im Gesundheitswesen, die wir schon vor der Pandemie hatten, einfach deutlicher. Statt längerfristiger Planung regiert Kurzzeitdenken. Die Finanzierung über Fallpauschalen führt dazu, dass die Kapazitäten von Spitalabteilungen sofort reduziert werden müssen, wenn sie nicht zu 85 Prozent ausgelastet sind. Und da geht es nicht nur um ein Bett, sondern auch um die dazugehörigen Pflegenden. Deshalb haben wir heute weniger Intensivbetten als noch im Herbst 2020.

Und solches Kurzfristdenken rächt sich dann halt, wenn es zu einem Peak kommt, wie jetzt gerade wieder. Plötzlich fehlen jene Pflegerinnen und Pfleger, die man vorher eingespart hat. Und die, die noch da sind, müssen noch mehr Überstunden leisten und ihre Ferien verschieben, bis sie fast zusammenbrechen. Auf etlichen Intensivstationen findet ein Exodus statt, die Pflegenden kündigen. Sie können nicht mehr. Das kommt uns teuer zu stehen.

Es bräuchte im Pflegebereich dringend ein längerfristiges Denken, eine längerfristige Planung und eine längerfristigere Finanzierung. Und zwar in allen Kantonen! Service public funktioniert nur mit Langfristplanung. Die Spitäler brauchen Defizitgarantien und klare Anweisungen der Kantone, gewisse Überkapazitäten in der Intensiv-, der Notfall- und der inneren Medizin. Anders können wir solche Pandemie-Peaks nicht schaffen. Und wenn einzelne Kantone da nicht mitmachen wollen, muss der Bund einspringen.

Und woher soll das Geld dafür kommen?
Wie gesagt, es kommt teurer, wenn wir es nicht tun. Das hat die Coronakrise gezeigt, weil es dann drastische Massnahmen braucht, sogar einen Lockdown. Aber klar, das kostet Geld, und es ist auch sonnenklar, woher das kommen soll: Wir müssen endlich aufhören, mit Bundesgeldern und Geld aus den Sozialversicherungen Spitalbehandlungen zu subven­tionieren, die schon von Privatversicherern bezahlt wurden. Die Gelder der öffentlichen Hand gehören in den Service public und nicht in den kommerziellen Sektor der Medizin.

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