Deutsche Wahlen: Supereuropäer Scholz
Mit Spannung verfolgt auch die EU-Spitze die deutschen Wahlen. Böse Zungen sagen, die Beamteten in Brüssel würden erst weiterarbeiten, wenn sie das Resultat kennen. Denn in einigen Dossiers ginge es...
Die Überraschung im deutschen Bundestagswahlkampf: Die SPD und ihr Spitzenkandidat Olaf Scholz schafften es in den letzten vier Wochen von ganz unten an die Spitze. Fragt sich allerdings, ob die Prognosen wirklich stimmen.
Spott, Häme, vielleicht auch ein bisschen Mitleid. So reagierten die Medien im August letzten Jahres auf die Nomination von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten. Die SPD-Co-Präsidentinnen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, zwei Vertreter des linken Parteiflügels, hatten den eher rechten Scholz ein halbes Jahr zuvor bei der Wahl der Parteiführung geschlagen. Nicht mal in der eigenen Partei war er also sonderlich beliebt.
Sicher, in der Öffentlichkeit galt er als der bekannteste SPD-Mann. Als Finanzminister hatte er Milliarden zur Abfederung der Coronakrise ausgeschüttet (siehe «Riegers Europa» Seite 8). Ihm persönlich trauten die Wählerinnen und Wähler als künftigem Regierungschef von Anfang an mehr zu als Annalena Baerbock, der Kandidatin der Grünen, und als dem CDU-Präsidenten Armin Laschet.
Der «Scholzomat» stolpert einfach nicht.
Doch gewählt wird in Deutschland nicht direkt eine Kanzlerin oder ein Kanzler. Gewählt werden Parteivertreterinnen und -vertreter für den Bundestag, das nationale Parlament. Dessen Mehrheit bestimmt dann die neue Regierung. Und da schien Scholz chancenlos. Seine SPD verharrte wie festgemauert in den Untiefen von 15, höchstens 16 Prozent Wählendenanteil. Und wurde locker von den Grünen überholt, die zeitweise sogar mit der CDU um den Spitzenplatz stritten. Mitte des Jahres waren sich alle Politexpertinnen und -experten sicher: Deutschland erhält eine schwarz-grüne Regierung.
Dann kam die grosse Flut im Westen des Landes. Ob sie entscheidend dafür war, dass alle bisherigen Wahlvoraussagen weggespült wurden, wird sich später vielleicht einmal zeigen. Jedenfalls stieg die Zustimmung für die Sozialdemokratie ähnlich schnell – ähnlich gewaltig wie das Wasser in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Ende August lagen CDU und SPD plötzlich gleichauf bei etwa 23 Prozent. Ein paar Tage später, am 5. September, kletterte die SPD auf 25 bis 26 Prozent, Tendenz weiter steigend. Laschets CDU fiel auf 20 bis 21 Prozent, Tendenz weiter sinkend. Für die Grünen sprachen sich noch 16 Prozent aus.
Und diese Verhältnisse stabilisierten sich: Der als emotionsloser «Scholzomat» und unterdessen auch als «Merkel-Klon» verspottete erzbürgerliche SPDler stolpert einfach nicht. Schon gar nicht durch lächerliche Versuche, ihn wahlweise als «linksextrem» (Junge Union) oder als Helfer von Steuerbetrügern (Laschet) anzugreifen.
Dabei hätte Scholz schon seine Makel. Als ehemaliger Bürgermeister von Hamburg ist er politisch verantwortlich dafür, dass prominente Steuerbetrüger davonkamen. Und aktuell muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, Geldwäscherei lässig bis nachlässig verfolgt zu haben. Das sind folgenschwerere Geschichten als Grünen-Baerbocks Schummeleien beim Lebenslauf. Oder als CDU-Laschets blödes Gekicher bei einer Gedenkfeier für Flutopfer und seine Unfähigkeit, aus dem Stand die drei wichtigsten Aufgaben zu benennen, die er als Kanzler angehen möchte. Doch beide werden ihre Fehler nicht mehr los. Während Scholz äusserlich unberührt weitermacht. Ernsthaft, mitfühlend und als sofort zupackender Kümmerer, der den Opfern von Corona und Flut beisteht, inszeniert er das inoffizielle Motto seiner Wahlkampagne: «Er kann Kanzlerin.»
Sicher ins Gewicht fällt dabei, mit welcher Selbstverständlichkeit Scholz sich als Finanzminister von der Sparwut verabschiedete. Der während Jahrzehnten als höchstes Gut behandelten «schwarzen Null» im Budget. Neue Schulden sollen ihn auch als Kanzler nicht stören. Denn Scholz will in den kommenden Jahren mit jeweils 50 Milliarden Euro den gewaltigen Investitionsstau auflösen. Deutschland leidet, weil Strassen, Brücken und Schulen verkommen. Weil die Voraussetzungen für die allseits herbeigeredete Energiewende immer noch nicht aufgebaut sind. Weil Windräder, Solaranlagen, Stromleitungen und E-Ladestationen fehlen. Weil bei der Digitalisierung in Europa nur Albanien noch schlechter dasteht. All das ist mit Marktgläubigkeit und mit «solider Haushaltspolitik», sprich Sparwut, nicht zu machen, wie das CDU und FDP wollen.
Auch wenn es in der Berichterstattung zum Wahlkampf praktisch nicht erwähnt wird; die SPD tritt mit einem Programm an, das drei Säulen beinhaltet: mehr Investitionen, leichte Steuererhöhungen für die Reichsten, eine allgemeine Bürgerversicherung statt privater Krankenkassen. Und: Für die 20 Prozent der Arbeitenden, die zu Tieflöhnen schuften, soll der Mindestlohn auf 12 Euro steigen. Und die Tarifbindung bei den Löhnen wieder verstärkt werden. Das sind beides Forderungen, die SPD, Grüne und Linke teilen.
Stand jetzt hätten SPD, Grüne und die Linke eine Mehrheit, die das Land etwas sanieren, etwas gerechter machen könnte. Um das zu verhindern, setzt die CDU auf eine Neuauflage der «Rote Socken»-Kampagne, mit der sie 1994 erfolgreich war. Die Stossrichtung: Mit einer Beteiligung der Linken, also der «Kommunisten», an der Regierung ginge alles kaputt: die EU, die Nato, der Euro, die Wirtschaft. So verrückt das auch ist, setzen sich SPD und Grüne doch nur taktisch zur Wehr. Sie wollen sich die Option bei möglichen Koalitionsverhandlungen nicht nehmen lassen. Dabei bauen sie aber selbst an Hürden gegen die Linke, die zu überwinden kaum realistisch erscheint. Scholz, andere prominente SPDler und Grüne propagieren nur wenig verblümt einen Ausschluss der Linken – weil diese sich nicht zur Nato «bekennt». Dank dem eingeforderten Nato-Bekenntnis bliebe Scholz für eine Koalitionsmehrheit nur die FDP. Diese würde allerdings eine Beerdigung aller wesentlichen Ziele der SPD verlangen.
Und so könnte der sozialdemokratische Höhenflug schlagartig wieder enden und der Verlierer Armin Laschet dank Grünen und FDP am Ende doch noch zum Nachfolger Merkels werden.
Die Wählerinnen und Wähler haben zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählen sie nach dem Mehrheitswahlrecht in den 299 Wahlkreisen direkt eine Kandidatin oder einen Kandidaten. Die wichtigere Zweitstimme geht an die Parteilisten in den einzelnen Bundesländern.
FLEXIBLE ANZAHL. Nach dem Verhältniswahlrecht entscheidet sich, wie stark die Parteien im neuen Bundestag vertreten sein werden. Hat eine Partei mehr Direktmandate gewonnen, als ihr gemäss den Listenstimmen zustehen, erhalten ihre Konkurrentinnen sogenannte Ausgleichsmandate. Darum ist die Anzahl der Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht fix. Um in den Bundestag einzuziehen, braucht eine Partei drei Direktmandate oder mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen.
Nach den 16 Merkel-Jahren wird es gewöhnungsbedürftig werden, demnächst wieder von einem «Bundeskanzler» sprechen zu müssen. Angela Merkel hat für eine tiefgreifende Veränderung des Frauenbildes in Deutschland gesorgt. Der vielsagendste Beleg dafür ist ein Foto vom «Damenprogramm» beim Treffen der G-8-Regierungschefs im ostdeutschen Heiligendamm (2008). Das Foto zeigt Merkels Ehemann, den renommierten Quantenchemiker Joachim Sauer, der sich um die Kurzweil der sieben Frauen bemüht, deren Gatten gerade Weltpolitik betreiben.
NEUE MASSSTÄBE. Dank Merkel ist es nicht mehr seriös, die Rollen und Befähigungen von Frauen und Männern in eine Reihenfolge bringen zu wollen. Wer eignet sich eher, wer kann was besser? Merkel hat da neue Massstäbe gesetzt. Keiner ihrer Vorgänger an der deutschen Regierungsspitze ging so ruhig, so wenig pfauenhaft, zugleich aber auch so rücksichtslos und erfolgreich mit Macht um wie sie. Das mussten zuerst eigene Parteifreunde in der CDU lernen, die sie beiseite räumte, wenn sie ihrer Vorgesetzten nicht mehr klaglos folgten. Das lernte aber auch die Bevölkerung, welche die Kanzlerin mit «Sie kennen mich» ruhigstellte. Der Mehrheit genügte das, 16 Jahre lang. Bis heute ist sie beliebteste Politikerin des Landes.
Merkel hat dabei durchaus ihre Verdienste. Zum Beispiel beschloss die Naturwissenschafterin fast im Alleingang 2011, wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, den Ausstieg aus der Atomenergie. Sie machte, wirklich ungewöhnlich, zumindest einmal Empathie zur politischen Handlungsmaxime, als sie 2015 angesichts der grauenhaften Bilder bittere Not leidender Flüchtlingsmassen auf dem Balkan die deutsche Grenze öffnen liess («Wir schaffen das»).
MINDESTLOHN. Und sie sorgte auf Drängen ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. In allen drei Fällen musste sie dabei den Widerstand aus ihrer eigenen Partei brechen. Sie habe die CDU nach links gerückt, heisst es dazu. Richtiger ist wohl: Sie hat der Partei in den 16 Jahren praktisch alle Alleinstellungsmerkmale genommen. Das muss jetzt ihr Nachfolgekandidat Armin Laschet ausbaden.
Ihr Abschied von der Politik ist bitter, aber auch typisch: Nach dem verlorenen Afghanistan-Krieg verbummelte ihre Regierung nicht nur die Evakuierung einheimischer Hilfskräfte. Sie nutzte auch ihre Regierungsmehrheit, um Akten zum Einsatz, die Fehler und Versagen der Nato hätten dokumentieren können, nicht unter besonderen Schutz zu stellen.