Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Die Briefträgerin begegnete einem jungen Kollegen vom alten Arbeitsort. Sie tauschten sich aus über dies und das und auch über die Post. «Seit der letzten Reorganisation haben wir Megatouren», berichtete der Kollege. «Geht ja an normalen Tagen, aber wenn wir Bruttowerbung vertragen – da bist du bis um vier dran!» «Bruttowerbung» heisst im Post-Jargon die nichtkommerzielle Werbung, die an alle Haushaltungen geht, zum Beispiel Spendenaufrufe oder Wahlpropaganda. «Neunstünder und mehr», seufzte die Briefträgerin schaudernd, und der Spassvogel kam ihr in den Sinn, der regelmässig verkündet: «Eines Tages dräih i dure!»
«Neunstünder und mehr», seufzte die Briefträgerin schaudernd.
ZUR HAND GEHEN. Die Briefträgerin erinnerte sich auch an eine kürzlich erlebte Szene: Eine vor der Pensionierung stehende Kollegin war auf der grössten Tour des Teams eingeteilt. Gut, der Chef anerbot ihr, einen Zipfel zu übernehmen, aber die Kollegin wollte sich nicht eingestehen, dass das hilfreich und eine Erleichterung gewesen wäre. Und stöhnte, zurück im Stollen, sie sei so am Anschlag, dass sie den Bettel am liebsten hinschmeissen würde. Der Chef ging ihr zur Hand, und schliesslich hatten alle Feierabend. Wobei die Kollegin, bevor sie die Bude verliess, bemerkte: «Ich bin einfach nur fertig!»
MÜDE UND ERSCHÖPFT. Bald darauf kam die Briefträgerin in einer andern Stadt auf der Strasse mit einem Berufskollegen ins Gespräch. Thema waren auch die Arbeitsbedingungen bei der Post. «Früher gab es Reservedienste vor Ort», erinnerte sich der Kollege. «Heute müssen die Teammitglieder alles auffangen, wenn jemand ausfällt. Mein Vater war schwer krank, ich stand ihm zur Seite, so gut es ging. Das nahm mich sehr mit, ich war müde und erschöpft. Mein Chef war verständnisvoll, sagte aber, er wäre froh, wenn ich trotzdem zur Arbeit käme, denn sie müssten schon zwei Touren aufteilen. Ich empfand solidarisch, ging hin – und fühlte mich als Maschine.»