Andreas Rieger
Die Länder Osteuropas geniessen bei uns keinen guten Ruf, vor allem seit dort autoritäre Regimes dominieren. Westeuropäische Linke und Grüne vermissen im Osten starke Schwester-Bewegungen und wenden sich enttäuscht ab. Im Westen wissen allerdings viele nicht, welche Katastrophen die Menschen in diesen Ländern nach dem Fall der Mauer durchgemacht haben. Sie erhofften sich mehr Freiheit und mehr Wohlstand. Stattdessen provozierten neoliberale Regierungen mit ihren Schocktherapien einen langen ökonomischen Zusammenbruch. Radikale Privatisierungen stiessen Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig zerschlugen die Regierenden den sozialen Schutz. Es folgte «der tiefste und längste Wirtschaftskollaps, den eine Weltregion in der Moderne je getroffen hat». So die Osteuropa-Forscherin Kristen Ghodsee.
In Polen senkten die Rechtspopulisten das Rentenalter.
ARMUT. Polen, Ungarn, Tschechien zum Beispiel kannten einen zehn Jahre langen Einbruch ihrer Wirtschaftskraft von bis zu 30 Prozent. Das ist vergleichbar mit der grossen Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die am härtesten getroffenen Länder Kosovo, Serbien, Ukraine, Georgien verloren auf dem Tiefpunkt 60 Prozent ihrer Wirtschaftskraft. Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall haben sie den alten Stand noch nicht wieder erreicht. Gegen 50 Prozent der Menschen lebten hier zeitweise in Armut. Die Geburten gingen zurück, der Körperwuchs der Jungen ging zurück, die Lebenserwartung ebenso. Millionen mussten in den Westen auswandern. Vom Wirtschaftsaufschwung ab den 2000er Jahren konnte nur ein Teil der Leute in den Grossstädten profitieren. Die «Zurückgelassenen» leben noch heute prekär.
LINKS UND RECHTS. Erst war eine Mehrheit der Menschen linken politischen Kräften nicht abgeneigt. Aber diese erwiesen sich – gepusht auch von ihren westlichen Schwesterparteien – als glühende Verfechterinnen und Verfechter der marktradikalen Rosskur. So wird die Linke heute vielerorts mit der antisozialen Tortur der letzten Jahrzehnte identifiziert. Die Rechtspopulisten dagegen kombinieren geschickt wirtschaftlichen Liberalismus mit sozialstaatlichen Massnahmen. In Polen senkten sie beispielsweise das Rentenalter und erhöhten die Kinderzulagen massiv. Das ist mit ein Grund dafür, dass ihnen viele jetzt folgen.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.