Soll die Schweiz wegen der kommenden Winterstrom-Lücke jährlich 400 Millionen in Gaskraftwerke stecken, die im Ernstfall wegen fehlenden Gases gar keinen Strom produzieren können? Eher nicht. Denn die Alternative liegt auf dem Tisch.
(Grafik: Handelsblatt)
Wir leben in einer Zeit der Brüche und Umbrüche. Die Produktion von Autos verzögert sich, weil zu wenig Chips erhältlich sind. Die Kosten für Containertransporte zwischen Shenzen und Rotterdam haben sich verfünffacht. Die Preise für Rohstoffe – auch für das umweltfreundliche Bauholz – explodieren. In China fällt der grösste private Baukonzern mit 300 Milliarden Schulden in den Schoss der Banken der kommunistischen Partei.
Viele führen das auf die Coronakrise zurück. Vielleicht ist auch genau das Gegenteil wahr. Ohne Coronakrise wären die Probleme noch grösser. Warum? Weil die Nachfrage noch grösser wäre.
Das Nein zum Rahmenabkommen mit der EU bedeutet zumindest mittelfristig ein Nein zum Stromabkommen mit der EU. Uns fehlen im Winterhalbjahr 25 Milliarden Kilowattstunden Strom, wenn wir nächstens drei sinnvolle Dinge kombinieren. Erstens: Ausstieg aus der Atomenergie. Zweitens: Umstieg auf Elektroautos, die immer günstiger werden. Und drittens: Ersatz der fossilen Heizungen vorab durch immer effizienter werdende Luft-Wasser-Wärmepumpen.
Die Pandemie hat uns gelehrt: Wenn Güter knapp werden, ist sich jede und jeder am nächsten. Niemand liefert Strom oder Gas in die Schweiz, wenn er selber zu wenig hat. Was dies bedeutet, lehrt uns der europäische Gasmarkt in diesem Herbst.
ZU WENIG GAS: Die Deutschen haben riesige Gasspeicher. Sie können – wenn diese voll sind – jeden kalten Winter durchstehen. Das aktuelle Problem: Die Gasspeicher sind zurzeit nur zu 62 Prozent gefüllt, obwohl die Russen ihre Lieferverpflichtungen einhalten. Jetzt drohen die Yankees problemverschärfend mit einem Exportverbot für ihr Flüssiggas.
ZU TEURES GAS: Die Gaspreise sind bereits heute – obwohl wir uns nicht in einer Krise befinden – am Explodieren. Selbst modernste Gaskraftwerke brauchen mindestens 1,5 Kilowattstunden Gas, um eine Kilowattstunde Strom zu produzieren. Das heisst zehn Rappen allein an Brennstoffkosten.
GASKRAFTWERKE NUR GEGEN KOHLE: Niemand will und wird Gaskraftwerke in der Schweiz bauen. Ausser, es gibt dafür Subventionen. Die Vereinigung «Kompass Europa» schlägt vor, den Strom um 0,65 Rappen pro Kilowattstunde zu verteuern, um Gaskraftwerke zu bauen. Klingt harmlos, bedeutet aber, dass wir jedes Jahr fast 400 Millionen in Gaskraftwerke stecken, die im Ernstfall wegen fehlenden Gases gar nicht produzieren können.
Die Alternative liegt auf dem Tisch. Nur wollen wir sie noch nicht wahrnehmen. Das wird sich nach den Wahlen in Deutschland ändern. Weil jede neue Regierung drei Dinge beschliessen wird: Erstens werden alle Bundesländer zwei Prozent ihrer Fläche für Solar- und Windanlagen zur Verfügung stellen müssen. Zweitens werden die Genehmigungsverfahren massiv beschleunigt. Vermutlich auf 6 Monate. Und drittens wird es für neue, erneuerbare Energien Gratis-Knete von der Bank für den Wiederaufbau geben.
DER WAHRE WASSER-STOFF: Die Schweiz hat dank den Stauseen kein Regulierungsproblem, sondern einen Trumpf. Wir müssen für den Fall des Falles das Wasser in den Stauseen lassen. Und nur produzieren, wenn wir keinen Strom beziehen oder selber produzieren können. Das geht nur mit mehr Staat.
SOLAR-FLÄCHE: Auf 2 Prozent der Fläche der Schweiz kann man relativ problemlos mit Photovoltaik 25 Milliarden Kilowattstunden Winterstrom produzieren. Vorab, weil in den Alpen pro installiertes Kilowatt viermal so viel Winterstrom anfällt wie im nebligen Mittelland.
SOLAR-TEMPO: Heute dauert es eine halbe Ewigkeit, bis man vielleicht eine Bewilligung für den Bau einer Freiflächenanlage bekommt. Das muss und wird sich ändern.
SOLAR-PREISE: Weil die Schweiz dank den vielen vorhandenen Stauseen und dank den auch im Winter sonnigen Alpen und Voralpen die besten Voraussetzung hat, rechnet sich eine Netto-null-Schweiz sogar.
Der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen produziert zusammen mit den Wahlresultaten in Deutschland einen einzigartigen Kollateralnutzen. Geschichte und Geschichten entwickeln sich dialektisch.