Die linke Theoriezeitschrift der Schweiz, der «Widerspruch», feiert Geburtstag. Was hat sie am Leben erhalten?
WIDERSPRUCH: Hier debattiert die Schweizer Linke seit 1981. (Foto: work)
Als die linke Theorie-Debattier-Zeitschrift auf die Welt kam, brannte Zürich: Die 1980er Jugendbewegung war gerade in voller Fahrt. Der Impuls zum neuen Heft kam aber nicht von den aufbegehrenden «Kulturleichen», die vor dem Opernhaus dem Zürcher Bürgertum das Fürchten lehrten. Er kam von regsamen 68ern wie Franz Cahannes, Stefan Howald oder Urs Hänsenberger. Frauen stiessen erst später zur Redaktion.
Das erste Heft des «Widerspruchs» widmete sich der «Krise der Parteien». Faktisch war die Partei der Arbeit (PdA) im Fokus. Im Herbst 1980 waren sechs Mitlieder aus der PdA Waadt ausgetreten, weil sie ihrem Kurs nicht mehr folgen konnten. Der «Widerspruch» dokumentierte diese Vorgänge mit einer gleichsam programmatischen Einleitung: «Die von den ausgetretenen Genossen aus der Waadt gestellten Fragen werfen die zentralen Probleme linker Politik auf: Verhältnis zu den Ländern des sogenannten ‹real existierenden Sozialismus›, die Rolle des Staates und die Strategie der Linken, der Arbeiterbewegung in diesem Staat und die Gefahren von Institutionalisierung und Bürokratisierung.»
Der «Widerspruch» war deshalb auch ein Aufbruch: Die Gründer wollten Neues, nämlich eine zeitgemässe Verbindung von marxistischer Analyse und sozialistischer Politik. Auch lockte die Lust an einer offenen Theoriedebatte. So war die Vielfalt linker Ansätze von Anfang an in der DNA der Zeitschrift eingeschrieben.
Wer über den zeitgenössischen Diskurs orientiert sein will, liest den «Widerspruch».
DOZIERFREUDE
«Widerspruch» Nr. 1 hatte eine Auflage von 600 Exemplaren. Zehn Jahre später waren es schon 2200 Exemplare. Und das Erstaunlichste: Heute sind es immer noch rund 2000. Das ist viel für eine Deutschschweizer Theoriezeitschrift mit einem beschränkten Kreis von Interessierten. Das Erfolgsrezept: Der «Widerspruch» stand vielen Engagierten für Beiträge offen. So wurde er zu einem festen Begleiter der Schweizer Linken. Hinzu kommt die Sensibilität der Redaktion für aktuelle Themen, die oft aus den sozialen Bewegungen stammten – von Autonomie über den Finanzplatz Schweiz und Europa bis zu Friedenspolitik und Menschenrechten.
Allerdings macht der freud- und nahezu bilderlose Auftritt den Zugang zur Zeitschrift auch schwer. Und die Dozierfreude so manch eines Autors, einer Autorin, gepaart mit einem akademischen Schreibstil, bietet zusätzliche Hürden. Was aber ist mit der bewegtbildverwöhnten Online-Jugend? Sind sie und der «Widerspruch» vielleicht ein Widerspruch? Auch darüber hat ein Heft schon nachgedacht, nämlich Nummer 76 mit dem schönen Titel «Jugend – aufbrechen, scheitern, weitergehen». In dieser Ausgabe durften auch jüngere Semester das Wort führen.
HERZBLUT UND GRATISARBEIT
77 Nummern erschienen bisher, es reichte sogar zu zwei Sonderbänden mit den Themen Friedensabkommen und Schuldenkrieg. Im Archiv der Zeitschrift an der Zürcher Quellenstrasse liegen 72 Schachteln mit Ausschnitten, Broschüren und Notizen: das Resultat des unermüdlichen Eifers des langjährigen Redaktors Pierre Franzen. Er hielt den Laden allen Widrigkeiten zum Trotz am Laufen. Aber nicht nur er, sondern auch all jene Autorinnen und Autoren, die Artikel verfassten und ohne Honorar ihre Solidarität mit der linken Sache bekundeten. Unter ihnen Prominente wie Arnold Künzli, Paul Parin, Mascha Madörin oder auch work-Kolumnist Jean Ziegler. Vielen linken Theorieorganen ging mit der Zeit der Schnauf aus, dem «Widerspruch» jedoch nicht. Wer über den zeitgenössischen Diskurs orientiert sein will, kommt um ihn nicht herum.
Der neue «Widerspruch»
«Geld. Macht. Politik»: So lautet das Thema des neusten «Widerspruchs». Das Heft befasst sich schwerpunktmässig mit einer vielversprechenden neuen Wirtschaftstheorie, die den Neoliberalismus ablösen könnte («Modern Monetary Theory»). Daneben gibt’s aktuelle Beiträge zum Klimawandel und zur Klassengesellschaft sowie wie stets Rezensionen neuer Bücher: widerspruch.ch.