Andreas Rieger
2022 wird ein Entscheidungsjahr für das «soziale Europa». Im Hinblick auf die bevorstehende Ausmarchung um die EU-Richtlinie zu Mindestlohn und GAV-Förderung spricht László Andor gar von einem «Endgame». Andor muss es wissen: Er war 2010 bis 2014 Kommissar für Arbeit und Soziales in der EU-Kommission. Der ungarische Sozialist biss damals aber in der neoliberalen Kommission von José Manuel Barroso mit sozialen Vorschlägen auf Granit.
Jetzt freut er sich, dass sich das Umfeld für den heutigen EU-Kommissar für Arbeit und Soziales, Nicolas Schmit, geändert hat. Dieser hat von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Auftrag gefasst, die europäische «Säule der sozialen Rechte» umzusetzen. Bereits hat Schmit einige Richtlinien-Entwürfe durch die Kommission gebracht, welche die Arbeitnehmendenrechte stärken würden: gleicher Lohn für Frauen, Arbeitnehmerstatus für Plattform-Workers, höhere Mindestlöhne und gestärkte GAV.
Skandinavien leistet Widerstand gegen Mindestlöhne.
STÄRKUNG. Die Mindestlohn-Richtlinie ist die wichtigste. Das ist in Brüssel allen klar. Das EU-Parlament hat ihr bereits zugestimmt und sogar noch eine Stärkung der Gewerkschaftsrechte hinzugefügt. Damit die Richtlinie aber zum Gesetz wird, braucht es noch die Zustimmung des EU-Rats, also der Regierungen aller Mitgliedländer. Das ist der schwerste Brocken – das «Endspiel».
Für neoliberale Regierungen in Mittel- und Osteuropa sind höhere Mindestlöhne und GAV-Förderung ein Graus. Doch auch sozialdemokratisch geführte Regierungen aus Skandinavien leisten Widerstand. Sie standen schon auf der Bremse, als der Milliarden-Investitionsfonds verhandelt wurde, weil sie nicht für die EU-Länder im Süden und Osten bürgen wollten. Jetzt wollen die Länder Skandinaviens der EU keine sozialstaatlichen Kompetenzen geben.
Begründung: Diese könnten auch für eine Nivellierung nach unten missbraucht werden. Sie wollen ihr hohes soziales Niveau mit einer nationalen Réduitpolitik erhalten. László Andor erinnert diese Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten daran, dass der Druck auf die sozialen Errungenschaften und das Sozialdumping letztlich vom grossen Lohngefälle in Europa herkommen. Hier braucht es eine Trendwende. Umso wichtiger ist, dass die Mindestlohn-Richtlinie das «Endgame» unbeschadet übersteht.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.