Schon als Kind spürt Siméon Seiler, dass irgendwas nicht passt. Als er begreift, was los ist, will er seinen Geschlechtseintrag von Frau zu Mann anpassen lassen. Es wird ein langer Kampf. Vergleichsweise schnell folgt dann das Coming-out am Arbeitsplatz bei der Unia.
TRANS AKTIVIST SIMÉON SEILER: «Mir ist schon klar, dass dieses Thema für viele neu ist. Weil sie einfach noch niemanden kennen, der trans ist.» (Foto: Yoshiko Kusano)
Es gibt Momente, die das Leben für immer verändern. Für Siméon Seiler kam 2016 so ein Moment: Zum ersten Mal begegnete er damals Menschen, die weder als Frau noch als Mann leben. Sondern sogenannt non-binär1 sind. «Da ist bei mir ‹z Zwänzgi abe›», erinnert sich Seiler: «Je mehr ich hörte, merkte ich: Das bin ja ich!»
Seiler ist da Anfang vierzig, und alle kennen ihn als Frau. Das ist das Geschlecht, das bei seiner Geburt eingetragen wurde. Obwohl er schon in seiner Kindheit spürte: Das stimmt so nicht. Anstatt mit anderen Mädchen identifizierte sich Seiler mit dem grösseren Bruder, trug am liebsten dessen Kleider. Damit fiel er allerdings gar nicht auf, denn: «Es waren die 1980er Jahre. Da war dieses ‹Meitli tragen rosa› und ‹Buben tragen hellblau› noch nicht so krass wie heute.» Im Jugendalter habe er sich dann schliesslich selbst nicht mehr so viele Gedanken ums Geschlecht gemacht. Auch, «weil ich einfach gar nichts wusste über das Thema».
Und doch spürte er irgendwo immer, dass etwas nicht passte. Rückblickend sagt Seiler: «Ich führte einen ständigen Kampf gegen meinen Körper. Migränen und Essstörungen. Alles Dinge, die sich um das Thema Geschlecht herumbewegen. Aber niemand konnte wirklich den Finger drauflegen.»
«Einfach so änderst du dein Geschlecht im Pass nicht!»
RIESIGE ERLEICHTERUNG
Als Seiler begreift, was los ist, geht es plötzlich schnell. Zuerst ändert er seinen Vornamen, dann beschliesst er, seinen Geschlechtseintrag offiziell anzupassen. «Mir war sofort klar: Das bin ich. Ich will das jetzt einfach durchziehen.» Am liebsten hätte Seiler zwar gar keinen Geschlechtseintrag im Pass, aber das ist in der Schweiz nicht möglich. Deshalb entscheidet er sich für «männlich», denn: «Zwischen den Polen ‹Mann› und ‹Frau› zieht es mich mindestens physisch eher in die männliche Richtung.» Am Anfang dachte Seiler, dass er das alleine schaffen könne. Doch damals entschied noch ein Gericht, ob das Geschlecht im Pass geändert werden darf. Neben dem «üblichen» psychiatrischen Gutachten verlangte der zuständige Richter eine Bestätigung des Hormonstatus. Und setzte einen Verhandlungstag an. Seiler soll vor Gericht beweisen, dass er wirklich trans2 ist, und sich als Mann präsentieren. Das hätte der Richter aber gar nicht verlangen dürfen. Seiler nimmt sich eine Anwältin. Nach unendlichen Monaten hat er dann seinen neuen Geschlechtseintrag. Endlich! Auf den Anwaltskosten bleibt er allerdings weitgehend sitzen. Das war 2018.
Vier Jahre später hat sich viel verändert: Seit dem 1. Januar können Menschen wie Siméon Seiler ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag auf dem Zivilstandsamt einfach ändern (siehe Box). «Das ist eine riesige Erleichterung für die Betroffenen!» Wobei das, was wirklich koste, geblieben sei: «Alle Ausweise neu machen: den Pass, die ID, die Bankkarten … das geht ins Geld.» Schon darum sei es lächerlich zu behaupten, dass Menschen jetzt einfach so ihr Geschlecht wechseln würden, damit sie nicht ins Militär müssten. Genau das behauptet die SVP. «Einfach Bullshit!» entfährt es Seiler. «Du streitest dich bis zur Verzweiflung mit der Krankenkasse, und nicht selten werden Menschen, die sich outen, von ihren Familien verstossen oder verlieren ihren Job. Das nimmst du nicht einfach so in Kauf!»
COMING-OUT BEI DER UNIA
Siméon Seiler kann auf sein Umfeld zählen: Alle unterstützen ihn, zuvorderst: sein Ehemann. Die beiden hatten geheiratet, als Seiler noch als Frau eingetragen war. «Hätten wir es später gemacht, hätten wir als gleichgeschlechtliches Paar gegolten und nicht mehr heiraten können.» Seiler lacht und sagt: «Da haben wir dem Staat ein kleines Schnippchen geschlagen!» Dass Seiler inzwischen als Mann eingetragen ist, ändert an der Gültigkeit der Ehe nichts.
Als er 2017 schliesslich beschliesst, sich auch am Arbeitsplatz zu outen, ist er Gewerkschaftssekretär bei der Unia Bern. Über Wochen plant er zusammen mit seinen Vorgesetzten sein Coming-out. Schliesslich schreibt Seiler einen Brief, den der Sektionsleiter ans Team schickt. «So hatte das Ganze einen offiziellen Charakter, das war wichtig», erklärt Seiler. Und er erinnert sich noch genau: «Wir hatten am Mittag einen Workshop. Ein Kollege ging nach vorne, um die Gruppenaufteilung zu machen. Und er schrieb mich mit ‹Siméon› auf, meinem neuen Namen. Ohne mit der Wimper zu zucken und nur ein paar Stunden nachdem das Team meinen Brief bekommen hatte. Das war wirklich schön!»
SCHON VIEL ERREICHT
Auch die Berner Unia-Frauen-Gruppe leitete Seiler damals weiter, die Frauen stimmten einstimmig dafür. Und später, beim Gewerkschaftsbund, organisierte Seiler den Frauenstreik 2019 mit. Für ihn sei von Anfang an klar gewesen, dass er zu dieser Bewegung dazugehöre. «Schliesslich bin ich schon lange feministisch unterwegs. Viel länger, als dass ich mich nicht mehr Frau nenne.»
Für die trans Community allerdings sei der Frauenstreik ein schwieriger Moment gewesen. «Ich glaube, für die meisten Frauen-Kollektive war klar, dass trans Frauen dazugehören. Aber mit non-binären Menschen oder trans Männern hätten sie wohl Schwierigkeiten gehabt.» Dabei würden die meisten Anliegen des Frauenstreiks sie genau gleich oder in der gleichen Logik treffen. «Warum sollten wir da nicht zusammen kämpfen?»
Das gleiche wünscht sich Seiler jetzt auch von den Gewerkschaften: «Mir ist schon klar, dass dieses Thema für viele neu ist. Weil sie einfach noch niemanden kennen, der trans ist.» Doch gerade von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern erwarte er die Offenheit, zu finden: «Ou, das ist zwar etwas Neues, aber gut, dann lerne ich das eben mal kennen.»
Und ja, es stimme schon, dass es hier um einen kleinen Teil der Bevölkerung gehe. «Aber nur weil wir wenige sind, heisst das ja nicht, dass wir keine Rechte haben!» Diese immer wieder einzufordern, das sei anstrengend, aber Seiler ist zuversichtlich: «Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wir haben auch schon viel erreicht!»
1 non-binär: Non-binäre Menschen wurden bei Geburt als Mädchen oder als Junge zugeordnet und fühlen sich nicht eindeutig oder nicht ausschliesslich als «Mann» oder «Frau».
2 trans: Von «trans» sprechen wir, wenn sich eine Person einem anderen Geschlecht zugehörig fühlt als jenem, das ihr bei der Geburt gegeben wurde. Dazu gehören neben trans Männern und trans Frauen auch non-binäre Menschen.
Ein trans Mann wurde bei seiner Geburt als Mädchen eingeordnet, fühlt sich aber dem männlichen Geschlecht zugehörig. Eine trans Frau wurde bei ihrer Geburt als Junge eingeordnet, fühlt sich aber dem weiblichen Geschlecht zugehörig.
Geschlecht eintragen: Jetzt endlich geht’s unkompliziert!
Das eingetragene Geschlecht und den Namen anzupassen: das war für Betroffene bisher ein Spiessrutenlauf. Seit dem 1. Januar reicht dafür jetzt ein kurzer Besuch auf dem Zivilstandsamt. Kostenpunkt: 75 Franken. Damit ist das Verfahren wesentlich einfacher und unbürokratischer, als es Siméon Seiler erlebt hat (siehe Artikel). Für die trans Gemeinschaft ein grosser Fortschritt.
Ein Wermutstropfen allerdings bleibt: So kann nach wie vor nur zwischen «Frau» und «Mann» gewechselt werden. Gar kein Geschlechtseintrag, wie es sich etwa non-binäre Menschen wünschen, ist in der Schweiz nach wie vor nicht möglich.
Mehr Infos und Unterstützung für Betroffene, aber auch Angehörige bietet das «Transgender Network Switzerland» (TGNS): www.tgns.ch