Jean Ziegler
In der Ägäis machen die Kriegsschiffe der Nato, der europäischen Küstenwache Frontex und die MG-bestückten Schnellboote des griechischen Grenzschutzes weiterhin Tag und Nacht Jagd auf Flüchtlingsboote. Sie werden gestoppt, oft auch zum Kentern gebracht. Dabei nehmen die Jäger erbarmungslos in Kauf, dass Frauen, Kinder und Männer ertrinken. Flüchtlinge, denen es gelingt, diesen Push-Back-Manövern zu entkommen und eine der griechischen Inseln zu erreichen, werden von gewalttätigen Polizisten gejagt, wieder in die Schlauchboote gezwungen und auf das freie Meer zurückgedrängt – ohne Treibstoff, ohne Trinkwasser.
Trotz vehementer Proteste von Organisationen der europäischen Zivilgesellschaft beharren die EU-Bürokraten in Brüssel auf ihrer mörderischen Abschreckungsstrategie.
Die Begegnungen zeigten mir, wie tief der moralische Imperativ im helvetischen Kollektivbewusstsein verankert ist.
WUNDER GESCHEHEN. Wunder sind selten in der Politik. Aber sie geschehen. Zum Beispiel am 15. Januar dieses Jahres in der Schweiz. Die Nichtregierungsorganisation «Migrant Solidarity Network» hatte zum Referendum gegen den Bundesbeschluss aufgerufen, den Schweizer Beitrag für Frontex von jährlich 14 auf 61 Millionen Franken zu erhöhen. Knapp vor Ablauf der gesetzlichen Frist konnte sie bekanntgeben, dass sie 55’000 gültige Unterschriften gesammelt habe.
Die Nachricht ist bedeutsam. Denn während all der Winterwochen, in denen auf den Strassen und durch Briefwerbung die Unterschriften gesammelt wurden, war die Flüchtlingstragödie an den europäischen Süd- und Ostgrenzen aus der öffentlichen Debatte verbannt. Diskutiert wurden in Radio, Fernsehen und in der Presse praktisch nur die Vorlagen zu den Abstimmungen vom 13. Februar. Obgleich die SP, die Grünen und die Gewerkschaften das Referendum unterstützten, kam es – ich wiederhole – zu keiner bedeutenden öffentlichen Debatte.
RÄTSELHAFT. Das Kollektivbewusstsein folgt Rhythmen, die kein analytischer Verstand vollständig erklären kann. Von allen sozialen Strukturen gehört das kollektive Bewusstsein zu den rätselhaftesten. Ich habe an den Samstagnachmittagen vor Weihnachten auf der Place du Molard in Genf mit Genossinnen und Genossen Unterschriften gesammelt. Erstaunlich waren die Reaktionen vieler Passantinnen und Passanten. Viele hörten zum ersten Mal, dass Schweizer Zöllner und Zöllnerinnen, Polizistinnen und Polizisten an den Push-Back-Verbrechen von Frontex teilnehmen. Spontan setzten sie die Flüchtlingstragödien mit der Verantwortung der Schweizer Regierung in Verbindung … und unterschrieben. Ich werde diese Samstagnachmittage auf der Place du Molard nicht vergessen: Die Begegnungen mit den Passanten zeigten mir, wie tief der moralische Imperativ im helvetischen Kollektivbewusstsein verankert ist.
Im Parlament wurde der Bundesbeschluss im vergangenen September nur knapp angenommen. Jetzt wird unser Volk im kommenden Mai darüber abstimmen. Eine zweite, noch deutlichere zivilgesellschaftliche Mobilisierung ist nötig. Die Aussichten stehen gut. Die Schweiz ist erwacht.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Und der Ziegel meint im Ernst, wenn das Volk allenfalls den Zaster für eine europäische Institution ablehnt, tue es das aus Sorge um rangeschleppte Glücksschiffer?