Jean Ziegler
Es gibt Momente im Leben der Bürgerinnen und Bürger, in denen sie sich total mit ihrem Heimatland identifizieren und stolz sind auf seine Regierung. Ein solcher Moment war für mich der 30. März. Wie überall in der Schweiz verlottern auch in Genf die öffentlichen Dienste.
Seit 35 Minuten stand ich an diesem Dienstagmorgen in der Schlange im Genfer Hauptbahnhof, um an einem der wenigen offenen Schalter ein Billett zu kaufen. Vor mir wartete eine bleiche junge Frau mit zwei kleinen, offensichtlich übermüdeten Mädchen. Die junge Mutter kam aus der Ukraine. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Sprache. Die freundliche SBB-Mitarbeiterin hinter dem Schalter hatte Mühe mit dem Englischen. Die Ukrainerin wollte ein Billett für den Jura kaufen. Dort wartete auf sie eine Gastfamilie.
Wo ist Hoffnung? Im Willen unseres Volkes, flüchtenden Menschen zu helfen – wo auch immer sie herkommen.
EUROPÄISCHE LEBENSWEISE. Ich versuchte zu vermitteln. Da sagte die Schalterbeamtin plötzlich: «Aber Sie brauchen doch gar keine Fahrkarte! Ihr Pass genügt. Für alle ukrainischen Flüchtlinge ist Bahnfahren in der Schweiz gratis.»
Über 27’000 Gastfamilien haben sich schweizweit bis Ende März gemeldet. Sie wollen vom Krieg vertriebene ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Diese Gastfreundschaft ist zutiefst beeindruckend. Sie zeigt die Warmherzigkeit, die im helvetischen Kollektivbewusstsein schlummert.
Hinter der ukrainischen Flüchtlingstragödie, die durch die europäische Gastfreundschaft gelindert wird, verbirgt sich eine andere, beinahe vergessene Tragödie. Denn Flüchtlinge der Kriege in Syrien, Irak, Jemen oder Südsudan erwartet an der Ost- und Südgrenze unseres Kontinents keine Gastfreundschaft und kein Mitgefühl. Sie werden als «Bedrohung der europäischen Lebensweise» (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) betrachtet und entsprechend behandelt.
Bewaffnete Schnellboote der EU-Grenzpolizei Frontex machen Jagd auf die Schlauchboote der Flüchtlinge in der Ägäis und im zentralen Mittelmeer. Sie drängen die Boote zurück, viele kentern, und ihre Insassen ertrinken. Auch an den ost- und südosteuropäischen Landgrenzen jagen die von Frontex gesteuerten und finanzierten nationalen Grenzschützer Flüchtlinge mit entsetzlichen Methoden zurück.
Besonders absurd ist die polnische Strategie. Aussereuropäische Flüchtlingsfamilien werden von der polnischen Armee in die Wälder und Sümpfe Weissrusslands zurückgetrieben, wo sie oft in der eisigen Kälte zugrunde gehen. Gleichzeitig nimmt das Land grosszügig bisher schon über zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge auf.
62 Millionen für Frontex? Unser Land ist Mitglied von Frontex. Schweizer Zöllnerinnen und Zöllner sind an den Verbrechen direkt beteiligt. Bundesrat und Parlament wollen den Schweizer Beitrag an Frontex um das Dreifache erhöhen, auf 62 Millionen Franken pro Jahr.
Wo ist Hoffnung? Im Willen unseres Volkes, das Asylrecht zu garantieren und flüchtenden Menschen zu helfen – wo auch immer sie herkommen. Deshalb müssen wir in der Abstimmung am 15. Mai die Beitragserhöhung für Frontex ablehnen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein im letzten Jahr im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam jetzt als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.