Gewerkschaftsbund-Chefökonom Daniel Lampart warnt:
«Es drohen ein Preisschock und ein Prämienschock bei den Krankenkassen»

Die Preise steigen auf breiter Front, und bei den Krankenkassen zeichnet sich eine neue Prämienexplosion ab. SGB-Chefökonom Daniel Lampart sagt, was jetzt zu tun ist.

SGB-CHEFÖKONOM DANIEL LAMPART: «Berufstätige mit einem mittleren Lohn hätten ohne Teuerungsausgleich 1600 Franken weniger. Pro Jahr!» (Foto: Keystone)

work: Nach mehr als zehn Jahren ist die Teue­rung zurück. Und nicht nur die Heizölpreise steigen. Was kommt noch alles auf uns zu?
Daniel Lampart: Mittlerweile sind es nicht nur einzelne Produkte, die teurer werden. Die Teuerung erfasst auch Möbel, Kleider, Take-away oder Fitnessabos. Die Teuerung ist bei über 2 Prozent. Das hatten wir schon lange nicht mehr.

Wie grosse Sorgen müssen wir uns denn machen?
Wir waren in den vergangenen Jahren einfach ­in einer ausserordentlichen Situation mit Null- oder Minusteuerung. Bis in die 1990er-Jahre war die Teuerung hingegen Alltag. Wirtschaftlich waren das viele gute Jahre. Entscheidend ist aber, dass die Teuerung bei den Löhnen und den Renten ausgeglichen wird. Sonst werden sie ent­wertet.

Was bedeutet das konkret?
Ohne Teuerungsausgleich hätten Berufstätige mit einem mittleren Lohn real 1600 Franken weniger Einkommen pro Jahr. Bei berufstätigen Paaren mit Kindern beliefe sich die Reallohn-­Einbusse auf 2200 Franken.

Happig!
Ja – und zusätzlich droht ein Prämienschock bei den Krankenkassen von bis zu 10 Prozent. Dieser wird Haushalte mit mittleren Einkommen besonders stark treffen, denn sie erhalten keine oder kaum Prämienverbilligungen. Für eine vierköpfige Familie bedeutet das eine Mehrausgabe von jährlich rund 1100 Franken. Das reisst ein zusätzliches Loch in das Haushaltsbudget.

Wo liegen die Ursachen für die Teuerung?
Es gibt verschiedene. Der kriegsbedingte Preisschock bei den Energiepreisen ist eine, immerhin beginnen sich diese zu stabilisieren. Eine ­andere sind die Lieferengpässe. Wenn es Knappheiten gibt bei Rohstoffen und Produkten, steigen natürlich die Preise. Und ein dritter Grund ist, dass viele Firmen diese Situation nutzen, um die Preise zu erhöhen, was sie lange nicht tun konnten.

Sie sprechen die Lieferengpässe an. Ist das noch eine Folge der Covid-Pandemie?
Auf den ersten Blick: ja. Aber eigentlich sind sie eine weitere Folge des Renditedenkens in den Firmen – der sogenannten Just-in-time-Logik.

Wie meinen Sie das?
Die Wirtschaft hat seit den 1990er-Jahren Reserven abgebaut. Bereits in der Finanzkrise 2008 waren die fehlenden Reserven der Banken eines der Hauptprobleme. In der Covidkrise ­haben wir nun gesehen, was für üble Folgen es hat, wenn die Spitäler zu wenig Personalreserven haben. Weil sie sie vorher abgebaut hatten. Und jetzt haben wir Lieferengpässe, weil die Firmen zu wenig Lagerkapazitäten haben. Das alles ist klassisches privatwirtschaftliches Versagen. Reserven und Lager kosten halt. Deshalb und aus Renditegründen wurden die Reserven  abgebaut. Wer davon profitiert, das sind die Aktionäre.

«Ohne Teuerungsausgleich und reale Lohn­erhö­hun­gen geht gar nichts mehr!»

Sie haben berechnet, dass Normalverdienenden ohne Gegenmassnahmen ein Kaufkraftverlust von 3500 Franken im Jahr droht. Was können wir dagegen tun?
Bei den Löhnen ist es ganz klar: Die müssen erhöht werden. Und zwar generell! Mit einem Teuerungsausgleich und gleichzeitig mit einer Reallohnerhöhung. Denn in der überwiegenden Mehrheit der Branchen läuft es gut bis sehr gut. Die Firmen haben die Coronakrise über­raschend schnell überwunden. Auch dank den durch die Gewerkschaften erkämpften ­Corona-Hilfspaketen und Stabilisierungsmassnahmen des Bundes. Dieser Aufschwung muss endlich bei den Leuten ankommen.

Bei den Krankenkassenprämien liegt die ­Lösung ebenfalls auf der Hand: Es braucht dringend höhere Prämienverbilligungen. Denn das grosse Pro­blem bei der Krankenversicherung sind die Kopfprämien, also dass alle gleich hohe Prämien bezahlen müssen, egal, wie viel sie verdienen. Wir Gewerkschaften meinen: Niemand soll mehr als 10 Prozent des Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben müssen. Deshalb fordern wir eine substantielle Erhöhung der Prämienverbilligungen. Damit auch Menschen mit mittlerem Einkommen entlastet werden und mehr Luft zum Atmen haben. Hier muss der Bundesrat rasch einen entsprechenden Vorschlag machen. Und die Kantone stehen in der Pflicht.

Warum die Kantone?
Es ist ja verrückt, dass die Kantone im Corona-Jahr 2021 mehr als zwei Milliarden Franken Überschüsse gemacht haben. Und sparen gleichzeitig bei den Prämienverbilligungen. Die Kantone haben von den Corona-Stabilisierungs­massnahmen des Bundes profitiert und von den Zusatzausschüttungen der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Den Kantonen geht es sehr gut. Doch statt mit ihren Überschüssen den Normalverdienenden mit Prämienverbilligungen ­­zu  helfen, planen viele Kantone weitere Steuersenkungsrunden für Gut- und Best-Verdienende und Vermögende. Da braucht es dringend eine Wende.

Auf Bundesebene lehnte das Volk in den vergangenen Jahren alle Steuersenkungspläne ab, die ohne soziale Abfederung ­daherkamen. In den Kantonen nicht, wieso?
Seit der Ablehnung der Unternehmenssteuerreform III 2017 wurden auf Bundesebene alle Steuersenkungsvorlagen abgelehnt, die keine sozialen Kompensationen vorsahen, das stimmt. Und zeigt: Der Wunsch nach einer steuerpolitischen Wende ist in der Bevölkerung tief verankert.

Generell gilt: Kantonale Vorlagen werden anders eingeschätzt als nationale. Das wissen die Kantonsregierungen und Wirtschaftsvertreter für sich zu nutzen. Doch das Nein zu ebendieser Unternehmenssteuerreform III war auch ein Misstrauensvotum an die Kantone. Zwar kam es danach immer noch zu kantonalen Steuersenkungen für Top-Verdienende und Firmen, aber moderater, als viele Kantone es geplant hatten.

Die OECD hat höhere Mindeststeuern für internationale Konzerne beschlossen. Die Schweiz wird diese übernehmen müssen. Bald kommen etliche Kantone also zu noch mehr Mitteln. Was dann?
Die neuen OECD-Regeln sind grundsätzlich eine gute Sache, weil sie das Steuerdumping zwischen den Ländern, aber auch zwischen den Kantonenbremsen. Ärgerlicherweise hat SVP-Finanzminister Ueli Maurer einen absolut untauglichen Vorschlag zur Umsetzung vorgelegt. Tiefsteuer­kantone wie Zug würden von seinen Plänen in einem unzulässigen Mass profitieren.
Für uns Gewerkschaften ist klar: Der Bund hat hier die Regie. Der Bund wird Vorgaben machen und diese Mindeststeuer auch eintreiben müssen. Das heisst, dass das Geld auch bei ihm landet. Und für uns ist auch klar: Ein Teil dieser Mehreinnahmen muss zur Entlastung der Gering- und Normalverdienenden eingesetzt werden.

Zurück zu den Löhnen. Es fällt auf, dass ältere GAV den automatischen Teuerungsausgleich haben, neuere weniger.
Tatsache ist, dass der automatische Teuerungsausgleich von den Arbeitgebern Anfang 1990er-Jahre angegriffen wurde. Es waren damals gewerkschaftlich schwierige Zeiten, und effektiv flog der automatische Teuerungsausgleich dann ­aus vielen GAV raus. Das ist jetzt natürlich ein kleiner Nachteil, weil wir Gewerkschaften in den Lohnverhandlungen nun über etwas verhandeln müssen, das eigentlich selbstverständlich ist. Nämlich, dass die Teuerung ausgeglichen wird. Damit die Berufstätigen real nicht weniger im Portemonnaie haben.

Mit dem Teuerungsausgleich sinken die Löhne nicht, aber sie steigen auch nicht.
Genau! Darum braucht es auch Reallohnerhöhungen.

Die Arbeitgeber und bürgerliche Ökonomen warnen jetzt schon lautstark ­vor «Übertreibungen» bei den Lohnforde­rungen. Und behaupten, dass höhere ­Löhne die Teuerung weiter anheizen würden. Stimmt das?
Ach, die finden immer und bei jeder konjunk­turellen Lage sogenannte Gründe gegen Lohn­erhöhungen. Tatsache ist doch: Die Preise fallen nicht vom Himmel. Wenn Schweizer Firmen ihre Preise erhöhen, dann haben sie daraus auch einen Mehrertrag. Es ist nicht so, dass sie Verluste machen. Denn in der derzeitigen Konjunkturlage können sie die Preiserhöhungen in zahl­reichen Branchen relativ einfach an ihre Kundschaft weitergeben.

Tatsache ist zudem: Sehr vielen Firmen geht es derzeit gut. In den meisten Branchen wird gutes Geld verdient. Aber: Wenn der Teuerungsausgleich jetzt nicht kommt, wird die Kaufkraft massiv geschwächt. Das wiederum würden etliche Branchen wie etwa der Detailhandel, das Gastgewerbe oder die Coiffeure unmittelbar merken. Wenn die Berufstätigen we­niger verfügbares Einkommen haben, müssen sie ihre Ausgaben zurückschrauben. Das kann nicht im Interesse der Gesamtwirtschaft sein.

Soll der Bund die Benzinpreise subventionieren, Herr Lampart?

work: Der russische Überfall auf die Ukrai­ne hat einen Schock bei den Energie­preisen ausgelöst. Was hat das für Folgen?
Daniel Lampart: Für die Schweiz sieht die Lage so aus: Das Rohöl ist teurer geworden, gleichzeitig ist aber der Dollar zum Franken schwächer geworden. Das bedeutet: Der Preis für ein Fass Rohöl ist für uns nicht auf einem Höchststand. Anders sieht es beim Heizöl aus. Das kostet so viel wie kaum je zuvor.

Warum?
Der Hauptgrund ist die CO2-Abgabe. Sie wurde richtigerweise aus Klimaschutzgründen angehoben. Und wird teilweise wieder an die Bevölkerung zurückerstattet. Aber leider nur teilweise: Ein ganzer Drittel fliesst an die Hausbesitzenden, die damit ihre Liegenschaften sanieren sollen. Wir Gewerkschaften finden das falsch. Und wir haben immer gefordert, dass die Abgabe vollständig zurück­erstattet wird. Wenn man Hausbesitzende subventionieren will für Isolationen und Wärmepumpen zum Beispiel, dann soll man das über allgemeine Steuermittel finanzieren. Nicht über eine Lenkungsabgabe, die alle gleich belastet!

Sollte der Bund den Benzinpreis subventionieren?
Die hohen Benzinpreise sind für Personen, die auf ein Auto angewiesen sind, eine Belastung. Allerdings muss man auch wissen, dass Autofahren in den vergangenen Jahren billiger geworden ist wegen des stark aufgewerteten Frankens. Aber das ist aus gewerkschaftlicher Sicht nicht entscheidend. Entscheidend ist der Teuerungsausgleich. Wenn ein vollständiger Teuerungsausgleich durchgesetzt werden kann, sind die höheren Benzin- und Heizölpreise finanziert. Konkret: Bei einem Lohn von 5000 Franken macht der Teuerungsausgleich von 2 Prozent 100 Franken mehr im Monat.

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