Wegweisendes Urteil: Gewerkschaften dürfen öffentlich Druck machen
Freispruch für Unia-Mann Blaise Carron

Eine Gewerkschaft darf Druck machen, wenn sich eine Firma nicht bewegt: Ein neues Urteil aus dem Wallis stärkt der Unia den Rücken im Kampf gegen Tiefstlöhne.

ALLES RICHTIG GEMACHT: Gewerkschafter Blaise Carron durfte die Kunden der Firma Adatis über Dumpinglöhne informieren. Das Gericht bestätigt das. (Foto: Lucas Dubuis)

Nur gerade 3000 Franken brutto für eine Vollzeitstelle: Diese Dumpinglöhne bei der Autozulieferfirma Adatis in Martigny VS machte Blaise Carron, Leiter der Unia Wallis, vor drei Jahren pu­blik. Doch statt über höhere Löhne zu verhandeln, reichte die Firma Strafklage gegen Carron ein. Und zwar wegen einer Medienmitteilung und eines Briefes, der einen Kunden von Adatis, den deutschen Industriekonzern Bosch, über die lausigen Löhne beim Zulieferer informierte. Beide Dokumente hatte Gewerkschafter Carron verschickt, nachdem ein Treffen mit dem Adatis-Chef ohne Ergebnis geblieben war.

In der Anzeige fuhren die Firmenjuristen schweres Geschütz auf: Ehrverletzung sei das. Und Verleumdung und unlauterer Wettbewerb und versuchte Nötigung (work berichtete). Für Carron kam das völlig überraschend, wie er gegenüber work sagt: «Solche Mitteilungen machen wir ständig. Das ist die normale Arbeit eines Gewerkschafters.»

Jetzt steht fest: Unia-Mann Carron hat völlig legal gehandelt. Die Staatsanwaltschaft ging auf drei der vier Klagepunkte gar nicht ein. Und Ende März sprach ihn das Bezirksgericht Martigny dann auch vom Vorwurf der versuchten Nötigung frei.

«Das ist die normale Arbeit eines Gewerkschafters.»

EIN LEGALES DRUCKMITTEL

Das Urteil hält fest: Zwar sei das Informieren von Öffentlichkeit und Geschäftspartnern ein Druckmittel – aber das sei durchaus «akzeptabel im Rahmen der Koalitionsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat». Diese Freiheit von Mit­arbeitenden, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen, ist in der Bundesverfassung garantiert. Und sie sei, so das Urteil, «essentiell in einer Marktwirtschaft, wo aufgrund des Ungleichgewichts der Kräfte ein individuelles Verteidigen der Rechte nicht ausreicht.»

Carron habe zudem nicht etwa der Firma schaden, sondern die Löhne der Mitarbeitenden verbessern wollen. Und das sei legitim, so die Richterin. Ja, nach dem Scheitern der Verhandlungen «hatte Blaise Carron gar keine andere Wahl, als zu einem Mittel des Kampfes zu greifen.» Deshalb: Freispruch und Entschädigung der Anwaltskosten.

EIN MAURER OHNE KELLE? GEHT NICHT

Laut Regula Dick, Leiterin des Unia-Rechtsdienstes, stärkt das Urteil allen Gewerkschaften den Rücken: «Es stellt fest, dass sie auch starke Mittel anwenden dürfen, um eine Firma zum Handeln zu bewegen.» Zumal Carron gegenüber der Kundin Bosch keinen übermässigen Druck aufgesetzt, sondern sie nur auf die Adatis-Löhne aufmerksam gemacht habe. Der Unia-Mann sagt dazu: «Uns diese Werkzeuge zu verbieten wäre etwa das gleiche wie einem Maurer die Kelle wegzunehmen.»

Bei Redaktionsschluss war offen, ob Adatis das Urteil weiterzieht. Allerdings existiert die Firma heute nur noch auf dem Papier (siehe Box).

Weggezogen: Adatis, Ade!

2020 schloss Adduxi, der französische Mutterkonzern von Adatis, den Schweizer Standort und verlagerte die Produktion der Plastic- und Elek­tronikteile nach Frankreich. Begründet wurde dies durch zu wenig Aufträge sowie die generell schwierige Lage der Automobilindustrie. Allerdings hatte es die Firma nicht einmal für nötig befunden, Kurzarbeit zu beantragen, um die ­Krise zu meistern (work berichtete).


Strafklagen:  Die Firmen probieren es immer wieder

Ihr Ziel ist klar: Sie wollen die ­Gewerkschaft mundtot machen. Deshalb reichen Firmen gerne mal Strafanzeigen ein. Laut Unia-Chefjuristin Regula Dick sind es bei der grössten Schweizer Gewerkschaft im Schnitt ein bis zwei Anzeigen pro Jahr: «Die grosse Mehrheit der Verfahren endet in einem Freispruch oder wird eingestellt.» Auffällig oft kommen die Anzeigen von Lohndumping-Firmen wie Adatis (siehe Text oben). Drei Beispiele:

SCHLOSSHERR BAHA: Die Unia deckte auf, wie der Multimillionär Dumpinglöhne zahlte. (Fotos: superfund.com, Toponline.ch; Montage: work)

DER DUMPING-SCHLOSSHERR:

Illegale Dumpinglöhne von netto 2495 Franken zahlte der österreichische Multimillionär Christian Baha polnischen Baubüezern für die Renovation seines Schlosses Sonnenberg in Stettfurt TG. Das machte die Unia 2016 publik. Dar­auf verklagte Baha den damaligen Unia-Sekretär Harry Huskic, weil dieser auf der Baustelle mit den geprellten Arbeitern gesprochen hatte. 2020 sprach das Bezirksgericht Frauenfeld den Unia-Mann frei.

DAS BÄCKEREI-PAAR:

2014 überreichte die Unia der Bäckerei Stehlin in Neuenburg die «goldene Palme für den schlechtesten Arbeitgeber im Kanton». Denn das Patrons-Ehepaar zahlte den Verkäuferinnen gerade mal 18 Franken 50 pro Stunde. Nach der Preisverleihung hagelte es Strafanzeigen: Wegen Verleumdung zerrten die Stehlins gleich sechs Unia-Leute vor den Kadi. 2018 stellte die Staatsanwaltschaft alle Verfahren ein.

GIPSERMEISTER GOGER:

Es ist der grösste Lohndumping-Fall, den die Schweiz je gesehen hat: Die Firma des Österreichers Kurt Goger hatte mindestens 261 Arbeiterinnen und Arbeiter geprellt, um insgesamt mindestens 6 Millionen Franken. Unia-Frau Christa Suter brachte den Skandal ab 2013 ans Licht. Doch statt faire Löhne zahlte Goger lieber teure Anwälte: In mehr als dreissig Verfahren versuchte Gipsermeister Goger die Gerichte zu überlasten. Darunter eine Strafanzeige gegen Unia-Gewerkschafterin Suter. Sie wurde 2018 freigesprochen. Goger dagegen wird heute per internationalen Haftbefehl gesucht.

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