Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Inzwischen befinden sich rund 4,5 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Das schätzt das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR. Unter den Flüchtenden sind viele Kinder. Putins Aggressionskrieg habe zur «schnellsten und grössten Fluchtbewegung von Kindern seit dem Zweiten Weltkrieg» geführt. Das sagt Catherine Russell, die Exekutivdirektorin des Uno-Kinderhilfswerks Unicef. Von den Zurückgebliebenen in der Ukraine haben schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen keinen Zugang mehr zu sauberem Wasser und schätzungsweise 4,6 Millionen nur eingeschränkten Zugang zu Wasser. Mehr als 450’000 Kinder zwischen 6 und 23 Monaten brauchen Nahrungsmittelhilfe.
Bomben, Zerstörung und Tod: Das Leid der ukrainischen Bevölkerung ist erdrückend. Und die Bilder der Greueltaten von Butscha sind nur noch verstörend. Sie stürmen auf uns ein. Sie erobern uns im Sturm. «Wie sollen wir darauf reagieren?» So fragt die deutsche Journalistin und Buchautorin Kathrin Gerlof zu Anfang ihres Essays auf Seite 3. Sollen wir mit Rache reagieren? Mit mehr Waffen? Oder mit Ignoranz?
Dürfen wir zugeben, dass wir grad nicht weiterwissen?
INNEHALTEN. Damit steckt Gerlof das grosse Dilemma ab, in das uns diese Bilder des Grauens stürzen. Sie findet überhaupt erst mal Worte für das Unsägliche. Und das tut gut. Gerlof analysiert nicht den Krieg, sondern das, was er mit uns macht. Sie hat keine fertigen Rezepte, wie sie derzeit so viele (vor allem männliche) Kriegskommentatoren feilbieten. Gerlof weiss auch nicht alles besser. Was zu tun sei und was nicht. In Anbetracht des Schreckens plädiert sie erst einmal fürs Innehalten. Weil: «Bilder haben die grösste Macht, in einer bereits eskalierten Situation eine Entscheidung für die weitere Eskalation zu treffen.» Bilder nährten die Empörung und Verzweiflung. Und den menschlichen Wunsch nach Rache. Das sei zwar verständlich, so Gerlof. Und dennoch: Wir dürften dieser «verständlichen, aber gefährlichen Neigung nicht nachgeben, auf eine schlimme Krise mit der Verstärkung jener Strategien und Praktiken zu reagieren, die mit Ursache der Krise waren».
FURCHTBARES DILEMMA. Innehalten und die eigene Ohnmacht aushalten, in den uns dieser ohnmächtige Krieg stürzt. Das ist angesichts von Putins Aggressionskrieg fast nicht zum Aushalten. Wohl drum all die fertigen Rezepte. Die Besserwisserei. Oder schlicht auch nur diese atemlos schreiende Empörung. Der erste professionell geführte Social-Media-Krieg der Geschichte produziert maximale Mengen an Bildern. Und er verlangt von uns maximale Empörung. Sofort. Immer. Und überall. Nur: Müssen wir ihm diese auch geben? Weil wir sonst herzlos und zynisch sind? Weil einem Krieg nur mit Kriegslogik beizukommen ist? Oder dürfen wir trotz allen Leids in der Ukraine und anderswo kurz innehalten? Zugeben, dass wir grad nicht weiterwissen? Ohne dafür als «Putin-Versteher» und «Kriegs-Verharmloserinnen» beschimpft zu werden? Weil wir es auch nicht sind. Aber dennoch keinen einfachen Ausweg aus diesem furchtbaren Dilemma sehen. Dürfen wir das?
* bei Redaktionsschluss