Der Krieg könne bald wieder die Umgebung des Stahlwerks in der ukrainischen Stadt Kryvyi Rih erreichen, befürchtet die lokale Gewerkschafterin Natalya Marynyuk. Trotzdem ist sie zuversichtlich.
WIEDER IN BETRIEB: Im Stahlwerk von Kryvyi Rih im Süden der Ukraine wird auch während des Kriegs gearbeitet. Für die 24 000 Beschäftigten ist die Arbeit im Werk ihre Existenzgrundlage. (Foto: Arcelor Mittal)
work: Der Stahlriese Arcelor Mittal erklärte vor einer Woche, dass sein ukrainisches Werk in Kryvyi Rih wieder anlaufe. Nach einmonatigem Unterbruch. Können Sie das bestätigen?
Natalya Marynyuk: In der Tat wurde ein Hochofen wieder hochgefahren. Auch die Stahlverarbeitung soll wieder beginnen. Erz wird zurzeit nur im Tagebau gefördert, das war nie unterbrochen. Die Arbeiten haben ukrainische Manager geleitet, da sich die ausländischen Manager nach Polen abgesetzt hatten. Doch mittlerweile kehren die ersten wieder zurück.
Gewerkschafterin Natalya Marynyuk. (Foto: IndustriAll)
Gerüchteweise hiess es, das Unternehmen wolle den Krieg zum Vorwand nehmen, um das Werk ganz zu schliessen.
Das halte ich für ausgeschlossen, das Werk ist hochprofitabel. Im letzten Jahr erwirtschaftete es Rekordgewinne. Eine Schliessung würden wir auch nicht hinnehmen, denn das Unternehmen ist von strategischer Bedeutung für die ukrainische Wirtschaft und die Existenzgrundlage von 24’000 Menschen.
Man erwartet neue schwere Kämpfe auch in Ihrer Region. Ist Produktion unter der Bedingung überhaupt möglich?
Ja, wir rechnen mit neuen Kämpfen, nicht nur im Osten des Landes, sondern auch in unserer Region. Aber wir glauben an unsere Armee. Die Front, die einmal auf 10 Kilometer an die Stadt herangerückt war, ist heute wieder 60 bis 70 Kilometer entfernt. Und unsere Armee rückt östlich und südlich von uns weiter vor. Deshalb können wir die Arbeiten Stück für Stück wiederaufnehmen. Allerdings werden wir die Logistik verändern müssen. Wir haben zurzeit keinen Zugang zum Schwarzen Meer und müssen auf Züge und Flüsse ausweichen.
Können denn die Arbeiterinnen und Arbeiter einigermassen sicher sein?
Etwa die Hälfte der Belegschaft ist im letzten Monat im Werk geblieben und findet dort auch Schutz. Im März haben alle ihren Lohn bekommen, zudem einen Risikozuschlag von 30 Prozent. Diesen Zuschlag will die Firma jetzt wieder streichen. Wir verlangen, dass zumindest diejenigen, die sich nicht ausreichend schützen können, also die Fahrer von Lastwagen und Lokomotiven, den Zuschlag weiter erhalten. Darüber verhandeln wir noch. Der Rest der Belegschaft erhielt im März trotz Zwangspausen noch 75 Prozent des Lohns. Von ihnen sind 1600 von der Armee eingezogen worden, andere sind bei der Territorialverteidigung, oder sie leisten Freiwilligenarbeit.
Im Werk selbst sind die Beschäftigten also geschützt. Kommen sie aber auch sicher zur Arbeit und wieder zurück nach Hause?
Dafür sorgt die Stadtverwaltung. Sie kennt auch die Routen, die nicht vermint sind.
«Im März haben alle ihren Lohn bekommen, zudem eine Risikoprämie von 30 Prozent.»
Ist die Versorgung der Menschen gewährleistet?
Nach anfänglichen Schwierigkeiten, auch als Folge von Hamsterkäufen, ist die Versorgung mit Lebensmitteln mittlerweile geregelt. Aber es gibt in der Stadt für die gut 600 000 Einwohnerinnen und Einwohner zu wenig Schutzräume. Und die medizinische Betreuung ist schlechter geworden. Viele Ärztinnen und Ärzte haben die Stadt verlassen. Einige sind in den Nordwesten oder gleich ins Ausland geflohen, andere sind an die Fronten gegangen, um Verwundete zu behandeln. Und es fehlen uns Medikamente, da ist die humanitäre Hilfe sehr wichtig.
Kann Ihre Gewerkschaft dabei helfen?
Ja, seit Ausbruch des Krieges hat sich unsere Arbeit komplett verändert. In den letzten Jahren haben uns vor allem Lohnverhandlungen und der Personalabbau von Arcelor Mittal in Atem gehalten. Jetzt helfen wir bei Evakuierungen, unterstützen unsere Leute in finanziellen Notlagen und vermitteln ihnen rechtliche oder psychologische Beratung. Schwerpunktmässig kümmern wir uns um die Ausrüstung derjenigen, die unser Werk beschützen, zum Beispiel haben wir für sie schusssichere Westen gekauft. Was wir nicht in der Ukraine besorgen können, versuchen wir aus dem Ausland zu kaufen oder von unseren Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen zu erhalten. Wir haben schon zwei Unterstützungslieferungen unserer Schwestergewerkschaft aus Bremen in Deutschland erhalten und erwarten eine weitere aus Gent in Belgien. Bei all dem brauchen wir auch finanzielle Unterstützung.
Internationale Solidarität ist aber mehr als Hilfsgüter und Geld. Sie zeigt uns, dass wir in unserem Kampf für unser Land und unsere Freiheit nicht alleine sind.
Dieses Interview wurde schriftlich geführt.
Natalya Marynyuk
Die 49jährige Natalya Marynyuk begann 1996 als Ökonomin im Stahlwerk von Kryvyi Rih im Süden der Ukraine. Sie engagierte sich in der Gewerkschaft der Metall- und Bergarbeiter (PMGU) und wurde 2017 als erste Frau im Land zur Präsidentin des lokalen Gewerkschaftskomitees gewählt. Es organisiert etwa 70 Prozent der rund 24’000 Beschäftigten des Werks. Die PMGU gehört zu Industriall, der weltweiten Vertretung von Gewerkschaften der Industrie, des Energie- und des Bergbausektors.