Die Altersbetreuung ist zum Eldorado für skrupellose Managements verkommen, auf Kosten der Pflegebedürftigen. Dies zeigt das Beispiel von Orpea in Frankreich.
HAPPIGE VORWÜRFE GEGEN ORPEA: Gravierende Pflegemängel, Vernachlässigung und Misshandlung von Seniorinnen und Senioren. (Foto: IMAGO)
Das Buch schlug ein wie eine Bombe. Seither ist Frankreich in Aufruhr. Denn was Autor Victor Castanet in seinem Enthüllungsreport «Les Fossoyeurs» (Die Totengräber) zu berichten hat, schockt die ganze Nation. Castanet recherchierte jahrelang in privaten Alters- und Pflegeheimen, vorab des Konzerns Orpea. Und deckte krasse Missstände auf: chronischen Personalmangel, manipulierte Stellenpläne, Stress und Arbeitsdruck, Vernachlässigung von Bewohnerinnen und Bewohnern bis hin zum vorzeitigen Tod. Gleichzeitig erzielen solche Pflegekonzerne Höchstrenditen, schleusen die Gewinne in Steueroasen und prellen den Staat um Milliarden. Castanets Panorama ist mehr als gruslig.
Der Aufstieg von Orpea (siehe Box) war nur möglich dank aggressivem Wachstum, aber vor allem dank der Privatisierung. Nach und nach stiessen Gemeinden und Départements ihre Alters- und Pflegeheime ab. Plötzlich fanden sich diese unter den Fittichen von Privatunternehmen wie Orpea, Korian, DomVi oder Colisée wieder. Frankreich wurde zum Eldorado der Altersheimkonzerne. Und diese breiten sich nun in ganz Europa aus.
Orpea kämpfte verbissen gegen die Gewerkschaften.
SYMPTOME VON UNTERERNÄHRUNG
Autor Castanet sagt, dass die Orientierung am Gewinn statt am Wohlergehen der Menschen der Treiber aller Missstände sei. Die Unternehmen könnten ihre Gewinne nur durch Senkung der Personalkosten und Begrenzung des Pflegeaufwands steigern. Je schmaler die Stellenpläne, desto mehr fällt fürs Management und das Aktionariat ab. Kapitalismus in der Altersbetreuung – das ist ein Systemfehler, macht Castanet klar.
Orpeas Weg nach oben ist mit Skandalen gepflastert. Seit 2015 reissen die Berichte über gravierende Pflegemängel, Vernachlässigung und Misshandlung von Seniorinnen und Senioren nicht ab. Der Grund sind Kostensenkungen, zu wenig Personal und miese Arbeitsbedingungen. In einem Heim im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine lagen Bewohnerinnen und Bewohner stundenlang im eigenen Urin, manche hatten Symptome von Unterernährung und Dehydrierung. Das Orpea-Management tat solche Vorkommnisse jeweils als Einzelfälle ab. Oder schob sie, wenn sie nicht mehr zu leugnen waren, angeblich unfähigen Pflegenden in die Schuhe.
SCHWEIGEGELD
Orpea wollte alles unter dem Deckel halten. Sogar mit Bestechung: Autor Castanet sollte 15 Millionen Euro erhalten, falls er sein Buch nicht publiziere. Doch der Journalist blieb standhaft. Im Februar löste er mit seinen Enthüllungen eine riesige Diskussion aus. Auch im Wahlkampf: Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon versprach im Fall seiner Wahl die Enteignung der Pflegekonzerne. Selbst die Regierung Macron, die sonst Privatisierungen nach Kräften fördert, musste handeln. Sie leitete Untersuchungen gegen Orpea ein. Eine Parlamentskommission zitierte Konzernchef Philippe Charrier. Doch der blieb viele Antworten schuldig. Die zuständige Ministerin Brigitte Bourguignon, eine zur Macron-Partei übergelaufene Sozialistin, prangerte den «puren Zynismus» der Orpea-Manager an.
Jetzt befasst sich die Justiz mit Orpea. Dies aufgrund von mehreren Strafklagen. Zahlreiche Familien werfen dem Konzern Misshandlungen und unterlassene Hilfe, teils mit Todesfolge, vor. Nahezu 50 Prozent der Covid-Toten lebten in Alters- und Pflegeheimen. Starben sie auch an Profithunger? Zwei Hilfspflegerinnen klagen gegen Orpea, weil sie der Konzern als Festangestellte statt als Temporäre ausgegeben habe, um so im Heim die Mindestnormen an Pflegepersonal zu umgehen. Auch die drei Gewerkschaften CGT, CFDT und FO ziehen den Konzern vor Gericht: Er hintertreibe mit gesetzwidrigen Methoden die gewerkschaftliche Organisierung.
Orpea kämpfte verbissen gegen die Gewerkschaften. So entliessen die Manager gezielt gewerkschaftsnahe Mitarbeitende oder mobbten sie weg. Es gibt Vorwürfe wegen manipulierter Wahlen in die Betriebskommissionen. Um die Gewerkschaften auszubremsen, installierte Orpea zudem einen braven, hauseigenen Personalverband. Er hört auf den schönfärberischen Namen «Regenbogen». Die Mitglieder werden mit Privilegien im Betrieb und tiefen Beiträgen geködert. Orpea liess sogar Mitarbeitende durch Privatdetektive ausspionieren, um Verbindungen zu den Gewerkschaften herauszufinden. Im Jahr 2015 versuchte der Konzern sogar, die Gewerkschaft CGT zu kaufen, vergeblich. Man bot ihr einen Geheimdeal mit einigen Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen an.
GELDWÄSCHEREI
Die Pariser Finanzstaatsanwaltschaft hat jetzt Vorermittlungen gegen Orpea wegen des Erwerbs von Pflegeheimen über dubiose Mittelsmänner eingeleitet. Delikte wie Steuerbetrug und Geldwäscherei stehen im Raum. Orpea agiert wie viele Konzerne, indem Gewinne in Steueroasen verschoben werden, um Steuern zu umgehen. So landen die Staatsbeiträge an die Pflege älterer Menschen plötzlich als Dividenden in den Taschen von Privaten. Das macht den Pflegesektor gerade für Finanzspekulanten attraktiv. Gemäss dem Recherche-Netzwerk Investigate Europe tummeln sich bereits über 30 Private-Equity-Firmen («Heuschrecken») im europäischen Pflegemarkt.
Doch in einigen Ländern regt sich jetzt Widerstand. Norwegen will nicht länger zusehen, wie privatisierte Pflegeheime in Profitmaschinen umgewandelt werden. Immer mehr Gemeinden übernehmen die Heime wieder in Eigenregie. Und im österreichischen Burgenland dürfen ab 2024 Seniorenheime nur noch von gemeinnützigen Gesellschaften betrieben werden. Pflege soll wieder vor Profit kommen.
Orpea in der Schweiz: 37 Senevita-Heime
1989 vom geschäftstüchtigen Psychiater Jean-Claude Marian gegründet, stieg Orpea innert kurzer Zeit zu Europas grösstem Betreiber von Alters- und Pflegeheimen sowie Seniorenresidenzen auf. Gründer Marian zählt zu den reichsten Franzosen. Orpea führt fast 1200 Heime mit über 116’000 Betten in 23 Ländern mit gegen 70 000 Beschäftigten. Grösste Aktionäre sind ein kanadischer Pensionsfonds sowie die Familie Peugeot.
ABKOMMEN. In der Schweiz gehören die 37 Senevita-Altersheime zur Orpea-Gruppe. Das neue Abkommen (siehe Spalte ganz rechts) sieht vor, dass Gewerkschaften und Orpea in jedem Land die strittigen Fragen klären. In einem zweiten Schritt sollen auch die Anstellungsbedingungen und damit die Löhne «mit Kollektivverhandlungen festgelegt» werden. Für Samuel Burri, Co-Leiter Pflege bei der Unia, ist klar: «Jetzt gilt es, dieses Abkommen in die Tat umzusetzen.»