Andreas Rieger
Steht die Europäische Union vor grossen Veränderungen? Tausende EU-Bürgerinnen und -Bürger haben sich seit einem Jahr intensiv an einer Zukunftskonferenz beteiligt. Und in Bürgerforen Antworten auf die grossen Zukunftsfragen der EU ausgearbeitet. Diese wurden jetzt im Europäischen Parlament in Strassburg vorgestellt. Gemeinsam ist allen Antworten der Wunsch nach stärkerer europäischer Eigenständigkeit. Die Abhängigkeit Europas von globalisierten Lieferketten hatte sich bereits in der Coronakrise gezeigt, etwa der Medikamentenproduktion. Angesichts des Kriegs in der Ukraine zeigt sich die Abhängigkeit der EU-Länder vom importierten Öl und Gas nun noch deutlicher. Aber auch die geopolitische Abhängigkeit von den USA. Kein Wunder, wenn die EU-Zukunftskonferenz nun die Entwicklung einer gemeinsamen und autonomen europäischen Aussenpolitik fordert. Und eine eigenständige Sicherheits-, Industrie- und Energiepolitik.
Die Abhängigkeit Europas sehen viele als Problem.
VERFASSUNGSÄNDERUNGEN. Damit das möglich wird, braucht die EU allerdings strukturelle Veränderungen. Zum Beispiel müsste das bei den meisten wichtigen Fragen geltende Prinzip der Einstimmigkeit der 27 Mitglieder durch ein qualifiziertes Mehr abgelöst werden. Ebenfalls müsste das EU-Parlament gegenüber der Kommission mehr Rechte erhalten. Sozialrechte müssten ein grösseres Gewicht erhalten als Marktrechte. Und schliesslich bräuchte die EU neue Einnahmen.
All das ist aber nur möglich, wenn die EU ihre Verträge und ihre Verfassung ändert. Jahrelang war dies ein Tabu. Doch jetzt schlagen Frankreich und andere «lateinische» Länder einen sogenannten Verfassungskonvent vor, neuerdings unterstützt von Deutschland. Um dort genau über diese Veränderungen zu debattieren. Aber auch die Bremserinnen und Bremser formieren sich, die der EU keine weiteren Kompetenzen geben wollen. Das sind Dänemark und weitere nordische Länder in einem befremdlichen Bündnis mit Polen und anderen Ländern Osteuropas.
VORWÄRTS UND ZURÜCK. Wie das Seilziehen ausgehen wird, ist ungewiss. In der Vergangenheit machte die EU nach Krisen immer wieder Schritte vorwärts. Die Coronakrise und der Überfall Russlands in der Ukraine zeigen nun, dass Veränderungen dringlich sind.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.