James Schwarzenbach hat in den 1970er Jahren Tausende Migrantenfamilien traumatisiert. Aber auch zum politischen Widerstand animiert. Wie, das zeigt jetzt ein neues Buch.
MARINA FRIGERIO: Die Psychologin kennt die verletzten Seelen traumatisierter Migrantinnen und Migranten. (Foto: Michael Züger)
Der 7. Juni 1970 war ein Sonntag der Angst. Zahllose Familien fieberten ihm gebannt entgegen. Insbesondere Menschen aus Italien und Spanien, die als «Gastarbeiter» in die Schweiz gekommen waren. Sie mussten befürchten, in Kürze aus dem Land geworfen zu werden. Dann nämlich, wenn die Schwarzenbach-Initiative angenommen worden wäre. Ungefähr 300’000 Migrantinnen und Migranten, so die Schätzung, hätten die Schweiz zwangsweise verlassen müssen. Es kam nicht so weit: Die Überfremdungsinitiative wurde mit 54 Prozent Nein-Stimmen knapp abgelehnt.
JAHRE DES TERRORS
Noch einmal davongekommen, dachten sich viele und atmeten auf. Doch dass sie in der Schweiz zwar chrampfen und malochen sollten, aber keineswegs willkommen waren, geschweige denn gleiche Rechte hatten – das war das bleibende Lebensgefühl dieser Migrantengeneration. «Sautschingg!» hallte ihnen noch Jahrzehnte in den Ohren nach. Oder wie es Giuseppe Reo auf berndeutsch formuliert: «Du muesch schwige, du muesch bügle, du bisch da für ds schaffe u wemer di nümm bruche, chasch ga.» Reo ist Unia-Sekretär und hat die Jahre des Schwarzenbach-Terrors, der sozialen Diskriminierung und Herabsetzung als Sohn italienischsprachiger Zuzüger am eigenen Leib erlebt. Sein Zeugnis aus jenen Jahren macht frösteln, so hautnah weiss er den unverhohlenen Rassismus der damaligen Schweiz zu schildern (das Zeugnis von Reo und anderen gekürzt zu lesen unter: rebrand.ly/sie-mussten-zittern).
«Diese Abstimmung war der Moment, als ich auf die Barrikaden gestiegen bin – und ich bin noch nicht runter.»
«DER SCHWARZENBACHEFFEKT»
Nachzulesen ist es zusammen mit anderen Zeugnissen im neuen Buch von Francesca Falk, «Der Schwarzenbacheffekt». Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Uni Bern. Sie wollte wissen, welche Spuren die hitzigen Überfremdungsdebatten bei den Betroffenen ausgelöst haben. Daraus wurde ein Projekt, in dem Menschen ihre persönliche Geschichte erzählen (Oral History). Dabei hat die Unia die Autorin mit Hinweisen und Adressen unterstützt. Heute muss die Schwarzenbach-Initiative als Beispiel einer Abstimmungskampagne begriffen werden, die bei vielen Menschen langwirkende psychische Schäden, eben Traumata, hinterlassen hat. Doch nicht nur das: Schwarzenbach hat auch Menschen politisiert und ihren Widerstandswillen geweckt. So bei Marina Frigerio: «Diese Abstimmung war der Moment, als ich auf die Barrikaden gestiegen bin – und ich bin noch nicht runter.» Frigerio ist Psychologin und Tochter italienischer Zuzüger. In ihrer Praxis hat sie wie wohl niemand sonst einen tiefen Einblick in die verletzten Seelen von traumatisierten Migrantinnen und Migranten erhalten.
NICHTS BIETEN LASSEN
Auch Alex Granato musste sich früh gegen Beleidigungen und Hänseleien wehren. Später wurde er Schreiner und heuerte bei der Gewerkschaft Unia an. Heute arbeitet er als Unia-Sekretär und sitzt im Thurgauer Kantonsparlament. Sein Vater hat in ihm das politische Bewusstsein geweckt, indem er ihm sagte: «Du musst dir überhaupt nichts bieten lassen. Du bist nicht weniger wert als die.» Seither ziehe sich der Kampf um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung wie ein roter Faden durch sein Leben, heisst es im Portrait in Francesca Falks Buch.
Das Buch wirft aber auch ein Schlaglicht auf James Schwarzenbach (1911–1994) – den Mann aus reichem Hause, der sein Leben lang nie arbeiten musste, aber just jene attackierte, die nichts hatten als ihre Arbeitskraft. «Für mich war er natürlich ein Faschist», sagt Rosanna Ambrosi in einem Portrait. Bei ihrer Einbürgerung hat sie Szenen wie im Film «Die Schweizermacher» erlebt. Schwarzenbachs Fixierung auf alles Fremde ist aber nicht einfach Geschichte. Heute wird die Fremdenangst von der SVP und von Rechtsradikalen politisch weiter ausgebeutet. Der Schwarzenbacheffekt ist nicht tot, er lebt.
Francesca Falk: Der Schwarzenbacheffekt. Wenn Abstimmungen Menschen traumatisieren und politisieren. 120 Seiten, Limmat-Verlag Zürich, ca. CHF 29.–.