20 Jahre Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union:
Nie mehr Saisonnier-Statut!

Am 1. Juni 2002 war das ­unmenschliche Saisonnier-Statut ­definitiv ­Geschichte. Die Diskriminierung ­von Migrantinnen und ­Migranten dauert jedoch an.

UNSICHERE ZUKUNFT: Zwei Frauen aus Italien warten in Chiasso, 1950. (Foto: Sozialarchiv)

Es ist ein Schandfleck in der Schweizer Geschichte: das Saisonnierstatut. Es galt zwischen 1934 und 2002. Wortlaut und Zahlen wurden zwar einige Male angepasst, doch das Ziel blieb immer das gleiche: auslän­dische Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer rechtlich nur schwach geschützten «Manövriermasse der Wirtschaft» zu machen. Es fusste auf drei Säulen der Diskriminierung:

  • Die Bewilligung war auf die Dauer einer Saison, höchstens aber auf neun Monate beschränkt. Danach mussten die Arbeitnehmenden die Schweiz für mindestens drei Monate verlassen.
  • Der Familiennachzug war ver­boten.
  • Den Saisonniers war der Stellen- und Ortswechsel grundsätzlich untersagt.

Die rechten Parteien wollen das Saisonnierstatut über Umwege wieder einführen.

ERFOLGSGESCHICHTE, ABER …

Die Einführung der Personenfrei­zügigkeit mit der EU ist auch dar­um eine Erfolgsgeschichte, weil sie das Ende des Saisonnierstatuts besiegelte. Mehr noch: Dank den von den Gewerkschaften erkämpften flankierenden Massnahmen dazu geniessen heute alle Arbeitnehmenden in der Schweiz Schutz vor Lohndumping. Doch trotz dieses grossen Fortschritts ist die Schweizer Migrationspolitik auch heute noch ein Werkzeug zur Diskriminierung von Arbeitnehmenden.

Die Kontingentspolitik für Menschen aus sogenannten Drittstaaten treibt Arbeitnehmende in niedrig qualifizierten Berufen in die Illegalität – und damit in die Ausbeutung. Und selbst Lohnabhängige aus der EU, die mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung in der Schweiz sind, müssen unter prekären Umständen leben und arbeiten. Daran erinnerten Aktivistinnen und Aktivisten der Unia-Migration am 1. Juni auf dem Bundesplatz.

GESETZESWIDRIG

Unia-Mann Hilmi Gashi sagt zu work: «Die sogenannte L-Bewilligung ist für die Betroffenen ein Dauerprovisorium mit grossen Unsicherheiten.» Oft können Menschen mit L-Bewilligung keine eige­­ne Wohnung mieten. Der Aufwand ist den Immobilienverwaltungen zu hoch. Gashi: «Das zwingt die Betroffenen in eine saisonnierähnliche Wohnsituation und zu unfreiwilligen Saisonnier-WGs.»

Die L-Bewilligung wird für ­einen bestimmten Zweck und für maximal ein Jahr ausgestellt. Der «bestimmte Zweck» kann dabei zum Beispiel ein berufliches Projekt sein, eine Ausbildung oder eine medizinische Behandlung. Eigentlich sind das Ausländer- und Integrations­gesetz (AIG) und das Freizügigkeitsabkommen klar: Allen Lohnabhängigen mit der Absicht, unbefristet in der Schweiz zu bleiben, und die zum Beispiel einen unbefristeten Ar­­beitsvertrag haben, muss eine Auf­enthaltsbewilligung erteilt werden. Doch etliche Kantone foutieren sich darum. Sie stellen bei Stellenantritt routinemässig L-Bewil­ligungen aus. Damit werden sie ­formell zu Kurzaufenthalterinnen und Kurzaufenthaltern mit weniger Rechten. Manche Firmen schliessen absichtlich nur Arbeitsverträge über 364 Tage – und erneuern sie dann wieder. Obwohl das Gesetz solche Kettenarbeitsverträge verbietet.

Trotz vieler Fortschritte, die die Personenfreizügigkeit mit der EU und die flankierenden Massnahmen brachten – es gibt auch einige Verschlechterungen. Denn, so Unia-Mann Gashi: «Die Härte in der Mi­grationspolitik hat sogar zugenommen.» Und er bringt ein Beispiel: «Migrantinnen und Migranten, die in persönliche oder finanzielle Schwierigkeiten geraten, können das Aufenthaltsrecht verlieren.» Diese Zustände habe es nicht einmal zu Zeiten des Saisonnierstatuts gegeben. Gashi: «Wer damals eine Niederlassungsbewilligung erlangte, hatte nach 15 Jahren einen relativ sicheren Aufenthalt in der Schweiz. Das ist heute nicht mehr der Fall.»

VORSTOSS

Der Grund dafür liegt im revidierten AIG. Seither müssen Menschen ohne Schweizer Pass, wenn sie in Not geraten, mit dem Verlust der Aufenthaltsbewilligung rechnen. Das auch nach Jahrzehnten in der Schweiz und obwohl sie hier ge­boren und aufgewachsen sind. ­Zum Beispiel wenn sie nach einem Jobverlust, nach einem Unfall oder schwerer Krankheit auf Sozialleistungen angewiesen sind. Dieser ­unmenschlichen Praxis will die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti einen Riegel schieben. Sie hat einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Die zuständige Kommission des Nationalrates ist dafür, jene des Ständerates dagegen. Als nächstes kommt das Geschäft in den Nationalrat.

Die Schweiz ist das Saisonnierstatut zwar los – doch die rechten Parteien und Teile der Wirtschaft versuchen dauernd, es über Um­wege wieder einzuführen.

Baracken-Schweiz: Das work-Leseheft

Die Unia hat den Kampf gegen die Ausbeutung von migran­tischen Arbeiterinnen und Arbeitern in ihrer DNA. Und auch work hat den Kampf gegen das Saisonnier-Statut dokumentiert und kommentiert. Zur einstigen Baracken-Schweiz erschien ein 48seitiges Bilder-Leseheft. Es ist gedruckt quasi vergriffen, kann aber hier online heruntergeladen werden.

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