Hans Ulrich Jost, Historiker. (Foto: Franziska Scheidegger)
Der Anruf erfolgte oft gegen zehn Uhr morgens. Nach einem üblichen «Wie geht’s» kam Marie-Josée Kuhn gleich zur Sache. «Ich hätte da eine Idee für einen kleinen Artikel», meinte sie jeweils. Ich versuchte meist abzuwehren: Termingründe oder fehlendes Wissen. Aber Marie-Josée, die in meinem Telefonregister als MJK figuriert, liess nicht locker. Sie führte mich sanft ans Thema heran. Sie vermochte zu überzeugen. Und ich fand Gefallen am Thema. mjk begleitete dann meine Arbeit. Sie verwandelte meine gelegentlich komplizierten Formulierungen in direkte, leserfreundliche Sätze. Ich nahm diese Hilfe dankbar an – und lernte dabei viel.
WORK SCHUF EIN GLEICHGEWICHT. Über zwanzig Jahre lang leitete mjk die 2001 gegründete Zeitung work. Die von den Gewerkschaften getragene Publikation kam zu einer Zeit, als die traditionellen Arbeiterzeitungen eingegangen waren. Die Berner «Tagwacht», das Zürcher «Volksrecht», die St. Galler «Volksstimme», der «Freie Aargauer», die französischsprachige «Sentinelle» und die im Tessin ansässige «Aurora» waren alle verschwunden. Die bürgerlichen Zeitungen beherrschten noch mehr als zuvor die Presselandschaft. work schuf ein wenn auch bescheidenes Gegengewicht. mjk verstand es, der Welt der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Angestellten und der Kulturschaffenden ein der aktuellen Zeit angepasstes Gesicht zu geben. Mit grossen Schlagzeilen und spektakulären Illustrationen als Blickfang. Und es kamen endlich auch die Frauen zum Zug.
KLARTEXT OHNE GESCHWURBEL. Mein erster Blick galt immer der Seite 2, der Kolumne links aussen. mjk legte darin, beinahe poetisch, die Leitgedanken der aktuellen Nummer oder Schwerpunkte der öffentlichen Debatte vor. Es war Klartext ohne Geschwurbel. Mir gefällt diese direkte Art, die auch die meisten anderen Beiträge von work prägt. Es sind hautnahe Beschreibungen gesellschaftlicher Probleme, die von den anderen Medien vernachlässigt werden. In ihnen spiegelt sich der Alltag der Arbeit und die Mühen der Lohnabhängigen.
Ich werde, wie wohl viele andere Leserinnen und Leser auch, die klaren Worte von Marie-Josée Kuhn vermissen.