Noch bis weit in die 1970er Jahre produzierten im Kanton Baselland Posamenterinnen und Posamenter Zierbänder in Heimarbeit. Ein wunderschön restaurierter Dokfilm holt sie zurück ins Gedächtnis.
DIE FABRIK ZU HAUSE: Bei Posamenterin Marta Buser-Grieder stehen Bett, Esstisch und Webmaschine (rechts im Bild) im gleichen Zimmer. So lebt und webt sie 1974 als eine der letzten Heimarbeiterinnen in der Schweiz. (FOTO: SCREENSHOT WORK)
Marta Buser-Grieder sitzt zusammen mit ihrem Mann Wilhelm an einem Tisch in ihrer kargen Wohnung. Im Hintergrund ein grosser Webstuhl. Sie sagt in die Kamera: «Ich wache um 5.30 Uhr, manchmal um 5 Uhr, auf und setze mich an den Webstuhl. Um 6 Uhr frühstücke ich zusammen mit meinem Mann, und dann kümmern wir uns gemeinsam um die Hühner und die Schweine. Wenn ich fertig bin, gehe ich zurück ins Haus und arbeite bis zum Mittagessen und dann noch einmal bis zum Abendessen am Webstuhl.»
Als der Dokumentarfilm «Die letzten Heimposamenter» im Jahr 1974 erschien, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die im Film gezeigten Lebenswelten noch existierten. Das Werk des Schweizer Regisseurs Yves Yersin entstand im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und porträtiert die letzten Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter der Posamentindustrie. Das 75. Filmfestival in Locarno präsentierte jetzt eine wunderschön restaurierte Version.
Die Heimarbeiterinnen wissen, dass sie die letzten ihres Berufs sind.
BEHUTSAME ANNÄHERUNG
Heimposamenterinnen gab es in der Schweiz seit dem 16. Jahrhundert vor allem in der Region Basel. Die Branche hatte ihre Blütezeit im 18. und 19. Jahrhundert. Die Basler Heimposamenterinnen und Heimposamenter produzierten Zierbänder für die Textilindustrie, für Hutfabriken und für Verpackungen der Lebensmittelindustrie. Die Fabriken befanden sich hauptsächlich im Kanton Basel-Stadt, während ein grosser Teil der Arbeit in den Häusern im Kanton Baselland ausgeführt wurde. Regisseur Yersin führt die Zuschauerinnen und Zuschauer mit seiner Kamera nahe an Arbeiterinnen wie Marta Buser-Grieder heran und zeigt behutsam ihren Tagesablauf und ihre Arbeit. Mit langsamen, akribischen Gesten arbeiten sie hinter den im hellsten Teil des Hauses installierten Maschinen. Es sind stolze Handwerkerinnen und Handwerker. Sie sind sich bewusst, dass sie die letzten eines Berufs sind, der auf seinen endgültigen Niedergang zusteuert.
Der Film entstand zwar in den 1970er Jahren, das Leben der Heimposamenterinnen erinnert aber an viel frühere Zeiten. Die Webstühle gehören nicht etwa den Heimarbeiterinnen, sondern der Fabrik. Und sie kümmern sich zusätzlich um die Äcker, die Tiere.
Yersin, der bereits über ein Dutzend verschwundene Berufe dokumentiert hat, widmet den Frauen und Männern an den Webstühlen viel Zeit. Er schafft es, das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen, indem er ihnen die Freiheit lässt, Schweizerdeutsch zu sprechen, und allzu viele frontale Interviews vermeidet. Der Film verschweigt aber auch nicht die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage dieser Arbeiterinnen und Arbeiter, die schlecht bezahlt und oft mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes erpresst werden. Und Regisseur Yersin zeigt auch Heimarbeiterinnen und -arbeiter, die sich trotz allem wehren: gegen die Ausbeutung und gegen die Moderne, die sie endgültig durch Automatisierung ersetzen möchte.
Grosses Kino: Zwei Frauen räumen ab
Das 75. Filmfestival in Locarno fand vom 3. bis zum 13. August statt und zeigte wie jedes Jahr nicht nur hochkarätige Filme, sondern ehrte auch die Menschen hinter und vor der Kamera. Die höchste Auszeichnung verlieh die Jury dieses Jahr an die Brasilianerin Julia Murat (42). Sie erhielt den Goldenen Leoparden für ihr Drama «Regra 34». Darin setzt sich die Regisseurin mit Geschlecht, Rassismus, Dekolonisation sowie dem repressiven System Brasiliens auseinander.
GROSSES KINO. Gleich drei Auszeichnungen gewann ausserdem das Jugenddrama «Tengo sueños eléctricos» von Valentina Maurel (34). Die Filmemacherin aus Costa Rica erhielt unter anderem den Preis für die beste Regie. (dak)