Jean Ziegler
Bundeshaus Bern, Mittwoch, den 14. September. Die energische Berner SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen pflegt eine wohltuend klare Sprache: Die selbstverordneten Saläre der Krankenkassen-Moguln seien ein «reiner Skandal». Daraufhin akzeptierte der Nationalrat mit 113 gegen 74 Stimmen die sozialdemokratische Motion, welche die Löhne der Krankenkassen-Chefs und -Chefinnen auf 250 000 Franken pro Jahr und jene der Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte auf 50 000 Franken jährlich beschränken will. Auf Anfang nächsten Jahres steigen die Krankenkassenprämien im Schnitt um 6,6 Prozent. Unter diesen Umständen ist die Gier der Kassen-Moguln für die Bevölkerung wirklich skandalös.
Wir haben weiterhin ein von mächtigen Privatinteressen kolonisiertes Parlament.
«WIRTSCHAFTSFREIHEIT». Beispiele: Sanitas-Chef Andreas Schönenberger kassierte im letzten Jahr als Lohn und als Einzahlung für seine Pension rund eine Million Franken. Philomena Colatrella (CSS) und Thomas Boyer (Groupe Mutuel) sackten je um die 800 000 Franken ein. Dazu kamen jeweils noch fette Spesenrechnungen, welche die Kassen übernahmen. Die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates lehnt eine Gehaltsbeschränkung jedoch ab. Begründung: Krankenkassen seien private Unternehmen, und ein Eingriff in die Lohnpolitik wäre eine Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Wirtschaftsfreiheit.
Diese Argumentation ist ein Blödsinn. Auch wenn die Kassen keine Staatsbetriebe sind, ist ihre wirtschaftliche Grundlage eine staatliche Kompetenz. Denn alle Bewohnerinnen und Bewohner des Landes sind gesetzlich verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschliessen.
Die nächste Schlacht steht bevor. Um Rechtskraft zu erreichen, muss die Motion auch vom Ständerat angenommen werden. Dort sind die FDP und die Mitte stark, und sie lehnen die Motion ab. Die Schweiz ist eine der seltenen parlamentarischen Demokratien, die kein Unvereinbarkeitsgesetz kennt. Hoch bezahlte Abgeordnete – Männer und Frauen – sitzen in den Verwaltungsräten von Grossbanken, Konzernen und eben Krankenversicherungen. Und im Parlament entscheiden sie angeblich frei und unbeeindruckt über die für ihre Geldgeber besonders wichtigen Normen.
FREIHEIT DER LOBBYISTEN. Wie frei die Nationalrätinnen und Nationalräte ihre Stimme abgeben, ist nicht zu kontrollieren. Alle Bemühungen, insbesondere der sozialdemokratischen Fraktion, zur Schaffung eines Gesetzes über die Unvereinbarkeit von privaten und öffentlichrechtlichen Mandaten sind bislang gescheitert.
Besonders schockierend ist die Situation im Ständerat. Seine Gesundheitskommission wird dominiert von sechs Ständeräten und einer Ständerätin, die allesamt als Kassenpräsidenten oder -verwaltungsräte reich dotiert sind. Und sie sollen frei und unbeeindruckt abstimmen, wenn es um Saläre und Prämienerhöhungen geht? Wir haben weiterhin ein von mächtigen Privatinteressen kolonisiertes Parlament.
Die nächsten eidgenössischen Wahlen sind im nächsten Jahr. Die Öffentlichkeit muss endlich die hochbezahlten Lobbyistinnen und Lobbyisten der Krankenkassen aus dem Parlament jagen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam diesen Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.