Eine Handvoll Tankstellenbosse aus dem Tessin blockieren den neuen Gesamtarbeitsvertrag – aus purem Geiz.
NICHT ROSIG: Bessere Arbeitsbedingungen an den Tankstellen sind nötig. Nicht nur, aber vor allem auch im Tessin (Foto: Key)
Die Arbeit an der Tankstelle ist stressig. Schichten von neuneinhalb Stunden mit nur einer halben Stunde Pause, häufige Nachtarbeit, manchmal sieben Tage hintereinander: So beschreibt es Verkäuferin Virginia aus dem Tessin in der Zeitung «La Regione». Ähnliche Zustände kennt auch das Tankstellenpersonal im Rest der Schweiz.
Etwas aber unterscheidet Virginia von ihren Berufskolleginnen und -kollegen nördlich der Alpen: der Lohn. Für eine Vollzeitstelle erhält sie nur gerade etwas mehr als dreitausend Franken brutto im Monat. In den meisten anderen Kantonen liegen die tiefsten Löhne für Gelernte bei 4000 Franken, für Ungelernte immerhin noch bei 3700. Denn der Gesamtarbeitsvertrag der Branche legt für alle Kantone einen Mindestlohn fest. Ausser für das Tessin. Eine umstrittene Ausnahme, die der Bund 2017 akzeptiert hat.
Geht gar nicht, fanden die Gewerkschaften, aber auch der Arbeitgeberverband der Branche. Sie einigten sich auf einen neuen GAV (work berichtete: rebrand.ly/tankstellen-gav). Mit höheren Mindestlöhnen für alle. Und einem Mindestlohn fürs Tessin: knapp 3500 Franken für Ungelernte. Auch die Tessiner Kantonsregierung war dafür.
Der Bruttolohn aktuell: knapp mehr als 3000 Franken.
EINSPRACHEN. Doch eine Handvoll Tessiner Arbeitgeber findet sogar diesen Lohn «unverhältnismässig hoch». So steht es in einer von total fünf Einsprachen gegen den GAV, die beim Bund eingegangen sind. Und die dafür sorgen, dass der neue Vertrag, obwohl seit einem Jahr fertig verhandelt, noch nicht in Kraft ist. Die Tessiner Patrons sagen, sie zahlten den kantonalen Mindestlohn von knapp 3200 Franken (siehe rechts). Das sei gut genug. Es sei schliesslich, so eine andere Einsprache, «eine historisch bekannte Tatsache, dass im Tessin andere Verhältnisse herrschen». Die Preise für Mieten, Nahrungsmittel und Kleider im Kanton seien etwa zehn Prozent tiefer als in Zürich. Anne Rubin, Co-Verantwortliche Detailhandel bei der Unia, lässt den Vergleich nicht gelten: «Das Leben im Tessin ist gleich teuer wie in vielen anderen Kantonen, zum Beispiel Freiburg.» Die Motive der Tessiner Patrons seien durchschaubar: «Sie klammern sich an ihr Geschäftsmodell, das auf krassem Lohndumping beruht.» Die Unia wird nun beim Bund beantragen, die Einsprachen der Tessiner Patrons abzulehnen. Anne Rubin: «Warum sollten die Tessinerinnen und Tessiner für die gleiche Arbeit viel weniger verdienen? Das akzeptieren wir nicht.»