Wir leben in wirtschaftlich turbulenten Zeiten, wie die Schweizer Industrie eindrücklich zeigt. Ende 2019 hätte wohl niemand gedacht, dass wenige Wochen später ein Virus die Produktion fast zum Erliegen brächte. Umgekehrt war es während der ersten Coronawelle schwer vorstellbar, dass sich die Industrie innert kurzer Zeit erholen und sogar noch mehr herstellen würde als zuvor. Trotzdem beobachten wir ein solches Auf und Ab. Die Industrie – ohne Chemie und Pharma – produzierte im zweiten Quartal dieses Jahres mehr als im gleichen Quartal 2019. Im Maschinenbau, in der Metallindustrie und der Herstellung von Präzisionsinstrumenten konnten viele neue Aufträge gewonnen werden. Das führte zu höheren Umsätzen – und auch Gewinnen.
HÖHERE PRODUKTIVITÄT. Die Industrie erledigt diese höhere Produktion weitgehend mit bestehenden Anlagen. Die Auslastung nahm stark zu. Gemäss der Konjunkturforschungsstelle der ETH liegt sie in der Maschinenindustrie aktuell bei durchschnittlich rund 90 Prozent, bei den kleineren Zulieferern liegt sie laut dem Branchenverband Swissmechanic sogar noch höher. Aber nicht nur den Anlagen wird viel abverlangt. Auch die Beschäftigten in der Industrie leisten deutlich mehr. Denn die Unternehmen haben trotz Mehrproduktion bisher nur wenige zusätzliche Mitarbeitende eingestellt. Deshalb sehen wir einen Anstieg der Produktivität. Eine Vollzeitbeschäftigte in der Industrie erarbeitete zuletzt durchschnittlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 43 000 Franken pro Vierteljahr. Vor der Pandemie waren es noch 40 500 Franken (vgl. Grafik).
SONDEREFFORT NÖTIG. Die Industrie kann dieses Tempo kaum hochhalten. Mit der Auslastung steigt das Risiko von Fehlern. Zudem sehen sich Firmen in dieser Situation eher gezwungen, Aufträge abzulehnen. Viele wollen daher Investitionen tätigen und neue Beschäftigte anstellen. Gleichzeitig dürfte die Produktion in den kommenden Monaten nicht mehr gleich steigen wie bisher, denn: es mehren sich die Anzeichen, dass es zu einer wirtschaftlichen Abkühlung kommt. Längerfristig werden auf eine weitgehend unveränderte Produktion deshalb mehr Beschäftigte kommen. Die Produktivität dürfte dadurch leicht sinken. Ganz aufs alte, tiefere Niveau zurückkehren wird sie aber wohl nicht. Und so oder so muss der Sondereffort, den die Beschäftigten in den letzten eineinhalb Jahren geleistet haben, mit höheren Löhnen entschädigt werden.
David Gallusser ist Ökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB).