Im Ringen um den Landesmantelvertrag haben im Tessin 2500 Bauarbeiter gestreikt. 80 Prozent der Baustellen standen still. Die Meister sind nervös, denn da kommt noch mehr.
FORZA! Tausende am Bau-Protest in Bellinzona – und bald in der ganzen Schweiz. (Foto: Samuel Golay / TI-Press)
Montagmorgen, 6 Uhr am Bahnhof Bellinzona. Noch ist weit und breit kein Pendler zu sehen, eine Touristin erst recht nicht. Nur eine Gruppe in signalroten Jacken steht schon am Bistro und bestellt Espresso. Es ist das Team von Unia-Gewerkschafter Igor Cima. Auf ihn wartet heute eine besondere Büez. Schliesslich ist es der 17. Oktober – und damit ein Streiktag! Im ganzen Kanton soll das Bauhauptgewerbe stillstehen. So haben es die Tessiner Bauarbeiter an ihrer September-Versammlung beschlossen – aus Protest gegen die Angriffe auf den Landesmantelvertrag (LMV) seitens des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV). Cima trommelt seine Leute zusammen. «Einfach wird es nicht überall!» warnt er. Einige Belegschaften seien von den Chefs stark unter Druck gesetzt worden. Hie und da gehe nun die Angst um – trotz der anfänglichen Streikzusage der Büezer. Deshalb teilt Cima die Anwesenden in Kleingruppen auf. Ihre Aufgabe: Baustellenbesuche und Streikkontrollen. Noch vor dem grossen Morgenverkehr schwärmen sie aus – ins Locarnese, die Leventina oder die Magadinoebene. Zeitgleich startet ein Luganeser Gewerkschaftsteam von Süden her. work fährt auf den Monte Ceneri mit, wo der Zürcher Baukonzern Walo die Passstrasse saniert. Aber hier heisst es niente sciopero, weiterchrampfen!
Die Meister pochen stur auf die 58-Stunden-Woche.
«DA SEID IHR JA ENDLICH!»
So will es der Bauriese. In diesem mischt auch FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen zünftig mit. Er gilt als politischer Scharfmacher, auch im SBV, wo er im obersten Führungsgremium sitzt. Auf der Ceneri-Baustelle treffen jedenfalls auch heute Arbeiter ein. Es sind mehrheitlich italienische Grenzgänger. Viele sind auffällig wortkarg, gehen mit gesenktem Blick an den Gewerkschaftern vorbei, schnurstracks in die Baracken. Nur zwei Arbeiter wollen sich sofort dem Streik anschliessen und runter nach Bellinzona ans grosse Bauarbeitertreffen. «Wie abgemacht», sagt einer. Doch der andere erklärt: «Die meisten Kollegen haben leider den Mut verloren. Denn heute schleichen hier plötzlich viele Vorgesetzte herum. Und gestern gab es eine Ansage von oben.» Leichter voran geht’s dafür in den nächsten Ortschaften.
Protesttage: Bald geht’s weiter!
Auf das Tessin folgen Streiks in der Deutschschweiz und der Suisse romande. Und zwar an diesen Daten:
DIENSTAG, 1. NOVEMBER: Protestmarsch in Basel.
MONTAG UND DIENSTAG, 7./8. NOVEMBER: Demos am Montag in Genf und am Dienstag in Lausanne.
Dort zeigt sich überall dasselbe Bild: Auf den meisten Baustellen sind nur noch Gerüstmonteure, Malerinnen oder Stromer unterwegs – aber nicht Berufsleute des Bauhauptgewerbes. Und jene Maurer, die noch am Werk sind, haben oft nur auf die Gewerkschaft gewartet. «Da seid ihr ja endlich!» freut sich ein Polier in Mezzovico, als er die roten Unia-Jacken sieht. Zehn Minuten später ist die Baustelle menschenleer. Und bald auch eine zweite und dritte. Das ganze Ausmass des Streiks wird erst in Bellinzona sichtbar.
BARBERA IM FESTZELT
Im dortigen Parco urbano versammeln sich bis zum Mittag 2500 Bauarbeiter. Ein grosses Hallo beginnt. Schliesslich kennt man sich im Kleinkanton. Und gekommen sind auch komplette Belegschaften. João Costinho*, Strassenbauer bei Mancini-Marti, sagt zu work: «Unsere Firma streikt geschlossen, total 320 Kollegen!» Auch Maurer Marco d’Asti* vom Tessiner Hochbau-Leader Garzoni sagt: «Unser Geschäft hat heute gar nicht erst geöffnet, es fehlen praktisch alle 200 Arbeiter.» Die Unia und die Gewerkschaft OCST schätzen: 80 Prozent der Baustellen ruhen! Regiosekretär Giangiorgio Gargantini präzisiert: «In der Region Lugano läuft praktisch keine Baustelle mehr. Das habe ich eigenhändig überprüft.»
Etwas verspätet trifft auch noch eine Mannschaft in oranger Berufskleidung ein. Es sind die Strassenbauer vom Ceneri! Eine Carladung voller Streiker aus Lugano hat an der Passstrasse gestoppt, den Walo-Büezern Mut gemacht und sie gleich mitgenommen. Umso besser schmeckt nun das Zmittag im Festzelt. Pasta al ragù gibt es, dazu einen soliden Barbera und zum Dessert Caffè corretto. Aber schon vor dem Schmaus ist die Stimmung gelöst. Das ist beachtlich, denn objektiv gäbe die Lage auch Grund zur Sorge.
MIT HUMOR AM STREIK
SBV-Funktionäre und Baumeister haben in den vergangenen Tagen nämlich wiederholt: Lohnerhöhungen soll es nur im Gegenzug für «Flexibilisierungen» geben, sprich für radikale Vertragsverschlechterungen à la 58-Stunden-Woche und Arbeit auf Abruf (work berichtete: rebrand.ly/sbv-eskaliert). Bei den Tessiner Baubüezern aber überwiegt eindeutig Optimismus. Oder ist es Vertrauen in die eigene Kraft? Jedenfalls nehmen sie’s sogar mit Humor: Als sich endlich ein Protestmarsch formiert, drängt ein älterer Büezer ans Fronttransparent und grinst in eine TV-Kamera. «Duck dich!» ruft ein Kollege, «sonst landest du auf der schwarzen Liste!» Schallendes Gelächter. Diese Atmosphäre ist auch Nico Lutz aufgefallen, der als Unia-Sektorleiter Bau seit dem frühen Morgen unterwegs war. Er sagt: «Die grosse Beteiligung und die Entschlossenheit der Bauarbeiter, insbesondere auch von vielen Jüngeren, das hat mich enorm beeindruckt.»
Betont unbeeindruckt gab sich dagegen Nicola Bagnovini, der oberste Baumeister des Tessins. Es seien, soweit er wisse, «vor allem Strassenbaustellen» bestreikt worden, sagt er tags darauf zu work. «Mehrere Firmen» des Hoch- und Tiefbaus seien hingegen «voll ausgelastet» gewesen. Eine gespielte Coolness, wie die Reaktion des nervös gewordenen SBV zeigt: Man werde die Gewerkschaften «unmissverständlich dazu auffordern, die Proteste und Streiks abzusagen». Diesem Wunsch werden die Baubüezer aber kaum Folge leisten. Ausser der SBV vollzieht eine Kehrtwende, wenn dieses work erscheint. Dann ist die nächste LMV-Verhandlungsrunde – und zwar schon die zweitletzte!
*Name geändert
Jetzt Petition unterschreiben Solidarität mit den Bauleuten, für eine starken LMV!
Der Kampf für einen starken Landesmantelvertrag (LMV) auf dem Bau läuft auf Hochtouren. Der Baumeisterverband will die Büezer 58 Stunden pro Woche chrampfen lassen und die Löhne der älteren Abeiter senken. Die Bauarbeiter hingegen kämpfen für besseren Schutz und mehr Zeit für die Familie.
Um die Bauleute zu unterstützen, hat die Unia die Petition «Bauarbeiter verdienen mehr!» lanciert. Denn: Jede Unterschrift hilft, den Meistern Druck zu machen. Aber nicht nur ihnen. Für Erstunterzeichner und Gewerkschaftsbund-Präsident Pierre-Yves Maillard ist klar: «Der Kampf der Bauarbeiter um die Arbeitszeit betrifft am Ende alle Arbeitnehmenden.»
Die Forderungen des Baumeisterverbands werden immer extremer und torpedieren das Arbeitsgesetz. Schon heute bewegen sich die Meister im rechtlichen Graubereich.
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