Auch nach neun Verhandlungsmonaten ist ein neuer Landesmantelvertrag (LMV) noch nicht in Sicht. Unia-Bauchef Nico Lutz (51) erklärt, wie es so weit kommen konnte und was die Protesttage gebracht haben.
UNIA-BAUCHEF NICO LUTZ: «Wenn bis Ende November kein neuer Vertrag vorliegt, so ist ab dem 1. Januar mit Streiks zu rechnen.» (Foto: Unia / Adobe)
work: Herr Lutz, Sie waren am 14. November an der eigentlich letzten Verhandlungsrunde über einen neuen LMV. Was ist dabei herausgekommen?
Diesmal waren beide Parteien mit reduzierten Delegationen vertreten. Über vier Stunden haben wir verhandelt. Es waren ernsthafte Diskussionen mit der gemeinsamen Absicht, bis Ende November eine Lösung zu haben. Doch eine solche ist noch nicht in Sicht. Es gibt jetzt am 22. und 28. November zusätzliche Verhandlungsrunden.
Nach neun Monaten noch immer kein Resultat! Ist das normal?
Im Bau kommt es immer wieder vor, aber gut ist das nicht. LMV-Verhandlungen beginnen jeweils im Februar. Wir als Unia gehen da immer mit dem Ziel rein, möglichst zum Herbstbeginn eine Einigung zu haben. Daher wollen wir immer schon von Anfang an real diskutieren. So haben wir schon in der ersten Sitzung alle unsere Forderungen transparent auf den Tisch gelegt.
«Bis im Sommer fuhr der SBV eine Verzögerungstaktik.»
Und die Baumeister?
Von Februar bis August hat uns der SBV keine präzisen Forderungen vorgelegt, sondern darauf bestanden, abstrakte Diskussionen über «gemeinsame Interessen» zu führen – ganz nach dem Lehrbuch des «Harvard-Verhandlungskonzepts». Dieses wurde einst von der US-Regierung im Nahostkonflikt eingesetzt. Aber Baumeister und Gewerkschaften sind nicht Israeli und Palästinenser! Wir haben seit über 80 Jahren einen Vertrag und müssten unsere gemeinsamen Interessen eigentlich bestens kennen.
Haben Sie da nicht einmal auf den Tisch gehauen?
Doch, vor den Sommerferien. Erst dann hat der SBV uns sein «Arbeitszeitmodell 23+» vorgelegt. Demnach soll die Wochenarbeitszeit von den Firmen kurzfristig zwischen 0 und 48 Stunden festgelegt werden können. Zusätzlich wären bis zu 10 Stunden Reisezeit erlaubt, also total 58 Stunden – und das ohne Zuschläge. Dabei ist das Arbeitsgesetz klar: Alles, was über 50 Stunden Arbeits- und Reisezeit hinausgeht, ist Überzeit und muss mit einem Zuschlag von 25 Prozent entschädigt werden. Das Modell 23+ ist also schlicht gesetzeswidrig.
Und da machen die Firmen mit?
So klar scheint mir das nicht. Wir schreiben regelmässig 4000 Baufirmen an und legen unsere Sichtweise der Vertragsverhandlungen dar. Da bekommen wir auch viele Rückmeldungen. Mich interessiert, was die realen Bedürfnisse und Probleme der Firmen sind. Das ist Voraussetzung für fruchtbare Verhandlungen. Ich führe regelmässig Gespräche mit Firmenvertretern – oft sehr gute. Und mein Eindruck ist, dass das SBV-Modell bei vielen Baufirmen weder wirklich bekannt noch gut abgestützt ist.
Bewegt hat sich der SBV aber kaum.
Die Baumeister haben uns jetzt eine minim abgeschwächte Version ihres bisherigen Vorschlags vorgelegt. Neu fordern sie nicht mehr eine Wochenarbeitszeit von 0 bis 48 Stunden, sondern nur noch eine von 30 bis 48 Stunden. Aber Achtung: Diese Mindestarbeitszeit von 30 Stunden wäre keine scharfe Grenze. Unterschreitungen wären jederzeit möglich. Die Baumeister haben ein Beispiel vorgelegt, wie ihr neues Modell umgesetzt werden könnte: An 123 Arbeitstagen, also während der Hälfte des Jahres, müssten Bauarbeiter 9,6 Stunden auf der Baustelle verbringen. Hinzu kommt die Reisezeit. Das ist fast identisch mit dem bisherigen Vorschlag. Schlicht ein Angriff auf die Gesundheit und das Familienleben der Bauarbeiter.
Was haben Sie darauf geantwortet?
Dass es auf dieser Basis mit uns keine Lösung geben wird. Dieses Modell wäre schädlich für die Bauarbeiter sowie für die gesamte Branche. Die Firmen würden keine Leute mehr finden, und gestandene Fachkräfte würden abwandern.
Auch in der Lohnfrage lässt der SBV alles beim Alten.
Wenn die Bauarbeiter längere Arbeitstage im Sommer nicht akzeptieren, verweigert der SBV sogar einen vollen Teuerungsausgleich. So würden die Reallöhne sinken. Da müssen sich die Baumeister noch ziemlich bewegen, wenn ein Abschluss möglich werden soll.
Haben die im Oktober und November durchgeführten landesweiten Protesttage denn nichts gebracht?
Doch, auf jeden Fall. Erste Angriffe sind komplett vom Tisch. Etwa die Lockerung des Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmende. Auch ihre Einstufung in tiefere Lohnklassen ist kein Thema mehr.
Das sei gar nie eine Forderung gewesen, sagt der Baumeisterverband, sondern ein Gewerkschaftsmärchen zu Propagandazwecken.
Wir haben nichts erfunden … (kramt in einem Stapel Akten). In diesem SBV-Papier steht es schwarz auf weiss: Als Forderung zum Thema «Ältere Arbeitnehmende» hält der SBV fest, «Lohn und Leistung» müssten «im Gleichschritt» sein und «Hürden für den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt beseitigen». Zudem müsse «der bestehende Kündigungsschutz überprüft werden». Und «überprüfen» heisst hier ganz sicher nicht verbessern. Und der Präsident der Solothurner Baumeistersektion hat kürzlich wieder explizit gesagt, die Löhne von Älteren sollen gekürzt werden. Aber umso besser, wenn das nicht mehr aktuell ist. Das wird eine Lösungsfindung erleichtern.
Und wo stehen die Diskussionen bei der Bezahlung der Reisezeit?
Auch hier haben wir noch kein Ergebnis. Die Bauarbeiter fordern zu Recht, dass Schluss ist mit den pro Jahr bis zu 100 Stunden unbezahlter Reisezeit. Die Baumeister sahen bisher keinen Grund, hier etwas zu ändern.
Der SBV findet den LMV zu dick und zu kompliziert. Sie nicht?
Nein, aber ich bin nicht gegen Vereinfachungen, wenn sie sinnvoll sind. Der SBV möchte aber einfach möglichst viele Artikel streichen. Das würde nichts erleichtern. Nehmen wir den Jahresarbeitszeitkalender. Wenn der wegfällt, wie das der SBV will, müssten die Firmen jeden Monat neu planen – ein enormer Mehraufwand! Denn die Schweiz hat ein Mitwirkungsgesetz. Belegschaften müssten immer sechs Wochen im voraus über die geplanten Arbeitszeiten informiert werden. Sie müssten auch dazu Stellung nehmen können. Einwände müssten bearbeitet werden. Und das alles während der Arbeitszeit – Monat für Monat. Kurz: ein teures Bürokratiemonster! Und auch den Arbeitenden bringt das wenig. Denn am Schluss entscheiden ja doch die Chefs.
Laut SBV waren die Warnstreiks an den Protesttagen eine Verletzung der Friedenspflicht. Liegt er damit wirklich komplett daneben?
Der Vorwurf zielt ins Leere. Seit neun Monaten wollen wir verhandeln. Bis im Sommer fuhr der SBV eine Verzögerungstaktik. Die Bauarbeiter sind zu Recht wütend. Sie sind nicht bereit, die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen tatenlos hinzunehmen. Absolut unverantwortlich wäre zudem, wenn die Gewerkschaften erst handeln, wenn der Vertrag schon ausgelaufen ist. Dann gäbe es nämlich bei jeder Vertragserneuerung einen längeren vertragslosen Zustand. Es ist daher normal, dass wir während der Verhandlungen Protestaktionen durchführen. Zudem sind sämtliche Aktionen weit im voraus angekündigt worden, und die allermeisten Bauarbeiter haben die Ausfallstunden mit Überstunden kompensiert. Es ist aber das gute Recht der Baumeister, ans Schiedsgericht zu gelangen. Das wirft uns nicht aus der Bahn.
Was aber, wenn auch die kommenden Sonderverhandlungen keine Lösung bringen?
Dann ist ab dem 1. Januar mit Streiks zu rechnen.
Sind die Streikkassen denn gefüllt?
Ich glaube, es ist bekannt, dass die Unia nicht kurz vor dem Bankrott steht.
Will die Unia denn überhaupt eine Lösung in den Verhandlungen?
Sicher, aber nicht, wenn es bedeutet, Gesundheit und Familienleben der Bauarbeiter zu opfern. Der Vertrag ist wichtig für die Bauarbeiter, für die Firmen und für die gesamte Branche. Und wie immer in Verhandlungen: Beide Seiten müssen sich bewegen, um ein Resultat zu erzielen.
work-Bau-Schwerpunkt
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- Der Genfer Baumeisterverband schaltet für Tausende Franken Inserate. Und beleidigt die Büezer als «Marionetten». (siehe Alles nur manipulierbare Marionetten)
- Fünf Protesttage, 15’000 Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen und ein fulminantes Finale in Zürich: Die grosse work-Reportage. (siehe Bauarbeiter lassen Zürich Beben)