Die deutsche Journalistin Ulrike Herrmann hat einen spannenden Polit-Bestseller geschrieben, in dem sie für einen staatlich gesteuerten Schrumpf-Kapitalismus plädiert. Nach dem Vorbild Grossbritanniens während des Zweiten Weltkrieges. Diese Suppe ess’ ich lieber nicht.
UMSTRITTENE THESE: Autorin Ulrike Hermann findet, dass nachhaltiges Wachstum eine Illusion sei – und auch mehr Velofahren nichts bringe. (Foto: Imago)
In der Zeit der Wiederentdeckung des Marxismus galt für die bewegte Jugend der 1968er Jahre: Der Hauptwiderspruch im Kapitalismus ist jener zwischen Arbeit und Kapital. Fast alle freuten sich damals auf die Entwicklung der Produktivkräfte, wenn die Fesseln des real existierenden Kapitalismus erst einmal gesprengt wären. Also auf die Entwicklung aller technischen, organisatorischen und geistig-wissenschaftlichen Ressourcen, die der Gesellschaft zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen zur Verfügung stehen. Am Wachstum, das allen zugute kommen sollte, zweifelten nur wenige. Inzwischen wissen auch die Optimistinnen und Optimisten unter uns, dass alles komplizierter war und bleibt.
SCHRUMPFWIRTSCHAFT. Die deutsche taz-Redaktorin und Publizistin Ulrike Herrmann hat nun einen Bestseller zum Thema geschrieben. Titel: «Das Ende des Kapitalismus». Ihre These: Nachhaltiges Wachstum sei eine Illusion. Das könne nicht funktionieren. Die Wirtschaft müsse schrumpfen. Konkreter: Wir müssten das Fliegen verbieten. Denn synthetische Kraftstoffe lösten das Problem nicht. Weil die Kondensstreifen bleiben würden.
Wenn es nach Herrmann geht, dürfen wir keine neuen Häuser mehr bauen. Stattdessen müssen wir den bestehenden Baubestand renovieren. Autos braucht es ihrer Meinung nach auch nicht. Und Velos würden es ebenfalls nicht bringen, weil mehr Velos nicht zu weniger Autos führten. Herrmann fordert, dass wir uns alle nur noch zu Fuss, mit dem Bus oder der Bahn bewegen.
Herrmanns Vorbild ist die britische Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Sie verwaltete die Mangelsituation dank Planwirtschaft in und mit dem Kapitalismus halbwegs zufriedenstellend. Mann und Frau könnten auch mit weniger glücklicher, da stressfreier leben, so Hermann. Wir alle, auch die Grünen unter uns, würden die Welt mit der Forderung nach qualitativem Wachstum ins ökologische Verderben stürzen. Es fehle bis heute an Ökonominnen und Ökonomen, die diesen vom Wachstum entkernten Kapitalismus konzeptionell entwerfen würden. Alles somit ganz anders, als in dieser Rosa-Zukunft-Rubrik immer wieder postuliert wird. Am meisten lernen wir bekanntlich von jenen, die andere Positionen vertreten. Also von unseren Kritikerinnen und Kritikern. Besonders, wenn diese – wie Ulrike Herrmann – äusserst faktenreich argumentieren.
Antithese 1: Herrmann hat recht. Wir können uns nicht Zeit lassen bis 2045 oder 2050, um in Sachen CO2-Ausstoss das Ziel Netto-null zu erreichen. Dieses müsste – wenn schon, dann schon – innert zehn Jahren erreicht werden.
Antithese 2: Elektroautos brauchen viel mehr Metalle, Lithium und seltene Erden als Verbrenner von Benzin und Diesel. Deshalb bräuchte die Schweiz auch nicht 4 Millionen Autos, die während 23 Stunden ungenutzt herumstehen. 400 000 autonom gesteuerte fahrbare Untersätze würden reichen. Wenn es bei den Batterien nicht bald zu einem Durchbruch kommt, müssen die Autos vielleicht laufend mittels in die Strassen zu verlegender Elektrospulen aufgeladen werden.
Antithese 3: Unsere bestehenden Speicherseen sind Batterien, in denen wir 8 Milliarden Kilowattstunden speichern können. Dazu kommen die beiden modernsten Pumpspeicherwerke Europas Linth-Limmern im Glarner Hinterland (siehe Seite 18) und Nant de Drance in den Walliser Alpen. Und vielleicht stehen uns dank Speichern, die Sand, Schotter oder Kalk auf über 1000 Grad erhitzen, nächstens weitere metallfreie Wärme- und Stromspeicher zu Verfügung.
Antithese 4: Es ist vermutlich sinnvoller, den weitgehend verlotterten Schweizer Gebäudebestand zumindest teilweise abzubrechen und durch Plus-Energiebauten der nächsten Generation zu ersetzen. Anstatt zu viel in das Retrofitten der Gebäude zu stecken.
Keine Antithese: Das mit dem Fliegen über mittlere und längere Distanzen ist leider ein Problem mit bisher keiner Lösung. Vielleicht werden wir den Marsch zurück zu Propellermaschinen antreten müssen, die ihrerseits von Wasserstoff-Brennstoffzellen angetrieben werden.