Der Protest von 8000 Genfer Linken gegen eine faschistische Provokation endete im Sperrfeuer von Schweizer Soldaten. Mit Nachwirkungen bis heute.
TÖDLICHE BEGEGNUNG: Am 9. November 1932 blockieren Soldaten in Genf eine antifaschistische Demonstration — kurz darauf fallen Schüsse. (Foto: Keystone)
Georges Oltramare, der Führer der faschistischen Union Nationale in Genf, hatte die Ermordung seiner linken Feinde Jahre zuvor bereits angekündigt. Am 9. November 1932 kam es zum Eclat. An diesem Tag veranstaltete er im Gemeindesaal von Plainpalais eine «öffentliche Anklage» gegen Léon Nicole und Jacques Dicker, zwei Exponenten der Sozialistischen (nach heutigem Verständnis: der Sozialdemokratischen) Partei. Für Oltramare und seine Gefolgsleute waren das «Umstürzler» und «Vaterlandsverräter». Die Linke hatte vom Staatsrat gefordert, das Tribunal der Faschisten zu verbieten. Vergeblich. Die bürgerlichen Parteien beriefen sich auf die Versammlungsfreiheit.
Die Faschisten hatten bürgerliche Beihilfe.
OHNE VORWARNUNG
Daraufhin versammelten sich vor dem Saal 8000 Demonstrantinnen und Demonstranten des gesamten linken Spektrums. Sozialdemokraten, Gewerkschafterinnen, Anarchisten, sogar Mitglieder der kleinen Kommunistischen Partei waren dabei. Ihnen gegenüber hatten 600 Soldaten Stellung bezogen. Gerade sechs Wochen in der Infanterierekrutenschule von Lausanne stationiert, wurden sie an diesem Tag nach Genf geschickt, um, wie ihnen gesagt wurde, die Revolution zu verhindern. Die Kantonsregierung hatte die Unterstützung der Armee angefordert, weil Auseinandersetzungen absehbar waren. Angeblich wurden die Soldaten schon bei ihrem Aufmarsch angepöbelt, angeblich wurde ihre Stellung bedrängt, und angeblich wurden einige von Demonstrierenden entwaffnet. Nach einer flammenden Rede des SPlers Nicole gab Oberleutnant Raymond Burnat um 21.34 Uhr ohne Vorwarnung den Schiessbefehl. Dreizehn Sekunden Sperrfeuer. Dann war die Menge auseinandergelaufen. Zurück blieben 10 Tote, darunter Henri Fürst, der Präsident der Genfer KP, und über 60 Angeschossene, von denen 3 später an ihren Verletzungen starben.
«Nie wieder»: 1000 an Gedenkdemo
Die Genfer Blutnacht bewegt noch heute. Unter dem Motto «Nie wieder» zogen am 12. November tausend Personen durch die Rhonestadt. Aufgerufen hatten der Kantonale Gewerkschaftsbund, die Antifaschistische Aktion Genf, die Gruppe Schweiz ohne Armee sowie sämtliche lokalen Linksparteien. (jok)
TRONCHETS AKTIONSLIGA
In der gleichen Nacht zogen Gruppen der in Genf starken Anarchisten um Lucien Tronchet, den Präsidenten der Baugewerkschaft, durch die Strassen und verbreiteten die Nachricht von der Ermordung ihrer Genossen. Tronchet hatte Popularität unter den Arbeiterinnen und Arbeitern der Stadt gewonnen, weil er mit einem 15tägigen Streik einen Gesamtarbeitsvertrag für den Bau erstritten hatte und mit seiner «Aktionsliga» für die Einhaltung des vertraglich vereinbarten Arbeitsverbots am Samstag sorgte. Sie schlossen Baustellen und rissen alles ein, was an diesem Tag errichtet worden war. Schon zuvor waren sie laufend in Strassenkämpfe mit den Faschisten verwickelt gewesen. Diese Spannungen explodierten am 9. November.
«REVOLUTIONSKÖCHE»
Tags darauf setzte sich Tronchet nach Frankreich ab. Léon Nicole und andere linke Funktionäre wurden verhaftet. Der angereiste katholisch-konservative Bundespräsident Giuseppe Motta, ein Anhänger des faschistischen italienischen Diktators Benito Mussolini, erklärte, die «Revolutionsköche» der Linken seien allein für die Toten verantwortlich. Und die Armee habe die Ordnung wiederhergestellt. Alle Demonstrationen wurden verboten, öffentliche Gebäude von Soldaten bewacht. Zeitungen phantasierten über einen geplanten Umsturzversuch der Linken, die zuerst zu Gewalt gegriffen hätten. Die Soldaten hätten nur ihre Pflicht getan. So sah auch die Armee keinen Grund, gegen die beteiligten Offiziere vorzugehen. Im Mai 1933 wurden 18 Demonstranten von Plainpalais als Anstifter des Aufruhrs vor Gericht gestellt, 6 von ihnen wurden zu vier Monaten Haft, Léon Nicole zu sechs Monaten verurteilt.
Fünfzig Jahre danach, am 9. November 1989, stellten Genfer Bauarbeiter in Plainpalais einen fünf Tonnen schweren Gedenkstein mit der Inschrift «Nie wieder» auf. Er wurde nachträglich von der Stadt bewilligt. Und 2018 initiierte der Genfer Kantonsrat eine Standesinitiative zur Rehabilitierung der 1933 verurteilten Demonstranten. Denn sie seien Freiheitskämpfer gegen den Faschismus gewesen. Doch der Ständerat und ein Jahr später auch der Nationalrat lehnten die Initiative ab. Begründung jeweils: Die Politik dürfe sich nicht in die Justiz einmischen und müsse die Gewaltenteilung achten. Zudem seien die Demonstranten rechtsstaatlich korrekt verurteilt worden.