Iranerinnen und Iraner in der Schweiz:
Zwischen Angst und Aufbruch

Die Unia hat fast 100 Mitglieder aus Iran. Vom Mullah-Regime in der Heimat halten sie gar nichts. Trotzdem schliessen sich nicht alle der weltweiten ­Protestwelle an. work hat nachgefragt.

Der iranische Volksaufstand bewegt weltweit. In Berlin forderten 80 000 Menschen den Sturz des Mullah-Regimes. Auch in Bern, Zürich und Genf kommt es wöchentlich zu Demonstrationen, seitdem iranische Sittenpolizisten die junge Mahsa Amini zu Tode geprügelt haben. Organisiert werden die hiesigen Proteste von Menschen wie Siroos Kassraian (67). Der Berner war einst Lehrer und Künstler. Doch die Schergen des islamischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini warfen ihn ins Gefängnis. Seine Galerie brannten sie nieder. Weil er ein bekannter Linker war. 1988 gelang Kassraian die Flucht in die Schweiz, wo er in einer Fleischfabrik Arbeit fand. Und Gewerkschafter wurde. Heute sagt er: «Es zerreisst mir fast das Herz!» Schon über vierzig Jahre dauere die Unterdrückung an. «Jetzt wird es von Tag zu Tag schlimmer!» Die Protestierenden in Iran bräuchten daher dringend internationale Solidarität.

SPIONE TEHERANS

Wie Kassraian dürfte es den meisten seiner 5200 Landsleute in der Schweiz gehen. So zeigt eine work-Umfrage unter den fast 100 Unia-Mitgliedern mit iranischem Pass: Niemand der Befragten unterstützt den ultrakonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi. Die Mehrheit der Befragten will sogar eine Revolution! Aber keinesfalls ein Zurück zur Monarchie, die in Iran erst 1979 gestürzt wurde (siehe «Frau, Leben, Freiheit!»), und erst recht keine ausländische Militärintervention.

Einige der Befragten haben Sympathien für die Proteste, glauben aber nicht an ihren Erfolg. Dazu gehört Grafikerin Shima Najati* (39). Sie erklärt: «Die Regierung wird bis zum letzten Blutstropfen kämpfen lassen – ohne Rücksicht auf Verluste.» An den Protesten hat Najati sich bisher nicht beteiligt. Aber nicht aus Verzweiflung, sondern aus Angst: «Der lange Arm Teherans reicht bis in die Schweiz. Wir werden alle überwacht», ist sie überzeugt. Schon vor Jahren habe die Schweizer Polizei sie vor iranischen Agenten gewarnt. Daher möchte sie ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Ebenfalls anonym bleiben will Betreuerin Soha Mohammadi* (62). Denn bei ihr reissen die Bilder aus der Heimat alte Wunden auf. Als junge Frau kämpfte sie gegen die Mon­archie des US-gestützten Schahs. Eines Tages stürmte der Geheimdienst ihre Wohnung. «Mein Mann wurde hingerichtet, mein Bruder mit Elektroschocks gefoltert.» Mohammadi sagt: «Heute ist es fast wie damals. Das macht mich fertig!» Zumal sie keine greifbare politische Alternative sehe.

Skeptisch war zunächst auch Elektromonteur Raouf Arash* (46). Aber das ist vorbei: «Die Bewegung hat endlich zur Einheit gefunden!» freut er sich – und warnt zugleich: «Wenn wir diese Chance verpassen, schlägt die Regierung mit aller Härte zurück!» Er selbst sei primär als Netzaktivist tätig und sammle Spenden.

Nationale Demo in Bern

Der Aufstand in Iran bewegt auch in der Schweiz. Über zwanzig Mahnwachen und Proteste haben bereits stattgefunden, von St. Gallen bis Genf. Doch der Bundesrat hat die EU-Sanktionen gegen das Teheraner Regime noch immer nicht übernommen. Jetzt wird deshalb für eine landesweite Kundgebung mobilisiert. Samstag, 5. November, 14.30 Uhr, Bundesplatz Bern.

DIE TYRANNEN ZITTERN

Buchhalterin Sheyma Qanbary (43) sieht es ähnlich: «Endlich haben wir wieder Hoffnung!» Massenproteste gebe es nämlich immer wieder in Iran. Doch zum ersten Mal seit vierzig Jahren seien Menschen aus allen Schichten, Ethnien und Regionen ­zusammen auf der Strasse. Diese ­Einschätzung teilt auch Lehrerin ­Maryam Mabood* (39), allerdings mit einer Einschränkung. Es gebe nämlich durchaus eine Gruppe, die sich kaum an der Herrschaft religiöser Fundamentalisten störe: «Die Superreichen und die Kinder der Mullahs. Sie leben in Saus und Braus und geben damit sogar auf Instagram an!» Von den rigiden Gesetzen des Gottesstaats seien sie schlicht ausgenommen. Und auch die westlichen Sanktionen spürten sie kaum – im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung. Genau diese Ungleichheit macht auch Lüftungsmonteur Abbas Bakhtiari (52) rasend. Er sagt: «Die Terrorherrschaft muss weg!» Hat er keine Angst, so offen zu reden? «Nein!» schiesst es aus Bakhtiari heraus, es sei gerade andersrum: «Jetzt sind es die Tyrannen, die zittern!»

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