Jean Ziegler
Nationalrätin Martina Bircher ist eine resolute, temperamentvolle Frau und in der SVP-Fraktion eine ziemlich einflussreiche Person. Für sie gibt es viel zu viele Flüchtlinge in der Schweiz. Sie fordert deshalb eine radikale Reform des Asylrechtes. Dieses Menschenrecht ist festgeschrieben im Artikel 14 der Deklaration der universellen Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Es heisst: «Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu erhalten.»
Das Menschenrecht auf Asyl wird von der EU und unserem Bundesrat mit Füssen getreten.
BRANDGEFÄHRLICH. Jeder Staat, der der Uno beitreten will, muss zuerst die Deklaration der universellen Menschenrechte und die Uno-Charta unterschreiben und ratifizieren. Dies haben bisher 193 Staaten der Welt getan. Auch die Schweiz im Jahr 2002. In einem Interview mit der «Sonntagszeitung» (20. November) sagt Frau Bircher nicht, welche «grundlegenden Reformen» sie genau mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der SVP durchsetzen will. Sie wird die entsprechenden Motionen und parlamentarischen Initiativen in der kommenden Wintersession einreichen. Bircher sagt aber schon jetzt: «Die Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention (das Vertragswerk zum Schutz Geflüchteter, aufbauend auf der Deklaration der universellen Menschenrechte, J. Z.) sind veraltet. Wie jedes andere Gesetz müssen auch sie von Zeit zu Zeit reformiert werden.» Was die SVPlerin da ankündigt, ist brandgefährlich. Die Deklaration der universellen Menschenrechte ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Sie geht jeder nationalen Gesetzgebung vor. Die Menschenrechte sind zeitlos, und ohne sie ist auf diesem Planeten keine friedliche Gesellschaft möglich. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration beherbergt unser Land heute knapp 119 000 Geflüchtete, die in irgendeiner Art im Asylverfahren stecken. Davon auszuschliessen sind rund 63 600 ukrainische Flüchtlinge, die bis zum März nächsten Jahres den Sonderstatus S erhielten, der sie von einem individuellen Asylverfahren befreit. Es bleiben also noch rund 56 000 schutzsuchende Menschen in unserem Land von knapp 8,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern – ein Horror für Frau Bircher.
MENSCHENJAGD. Die schweizerische Flüchtlingspolitik ist schon lange eine Schande für unser Land. Seit 2009 ist die Schweiz Mitglied der Frontex, der militärisch bewehrten Schutzpolizei der Festung Europa. Zu dieser Truppe gehören auch Schweizer Zöllner und Polizistinnen, Männer und Frauen, die jeden Tag und jede Nacht daran beteiligt sind, mit aller Gewalt Flüchtlinge zu vertreiben. Also zu verhindern, dass sie in einem EU-Land oder in der Schweiz einen Asylantrag stellen können. Das lässt sich der Bundesrat einiges kosten. Er hat in diesem Jahr den Frontex-Jahresbeitrag von 14 auf 61 Millionen Franken erhöht.
Martina Bircher irrt. Das Menschenrecht auf Asyl ist nicht «veraltet». Es wird von der EU und von unserem Bundesrat mit Füssen getreten. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wir müssen dafür kämpfen, dass sich die Schweizer Flüchtlingspolitik radikal und in kurzer Zeit ändert.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein im letzten Jahr im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam jetzt als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus