Jean Ziegler
Evin ist das grösste iranische Gefängnis. Es liegt am nördlichen Stadtrand Teherans. Es war Donnerstag, der 8. Dezember, fünf Uhr früh. In der Morgendämmerung war der Himmel fahl.
Der Galgen war im Innenhof aufgerichtet. Die Wächter stiessen den 23jährigen, mit Handschellen gefesselten Studenten Mohsen Shekari aus seiner Zelle. Shekari war in der Vorwoche von einem sogenannten Sondergericht wegen «Korruption, Verbrechens gegen die Staatssicherheit, regierungsfeindlicher Propaganda und Beleidigung des Propheten» zum Tode verurteilt worden. Sein wirkliches Vergehen aber war ein ganz anderes: Zusammen mit einigen Dutzend Kommilitoninnen und Kommilitonen hatte er eine der Hauptstrassen im Zentrum Teherans blockiert.
Die Opferbereitschaft der Aufständischen ist der Beweis für die Unbesiegbarkeit des menschlichen Geistes.
TODESMUTIG. Mohsen Shekari war einer der ersten jungen Revolutionäre, die seit dem Beginn des friedlichen, demokratischen Aufstandes vor über zwei Monaten hingerichtet wurden. Hunderte verhaftete Demonstrantinnen und Demonstranten, darunter viele Minderjährige, sind vom Tod durch den Strang bedroht.
Am Protest gegen das mörderische Regime der Mullahs beteiligen sich alle Volksgruppen des Landes. Die Demonstrationen wurden vor allem von Frauen initiiert und werden von Frauen geführt. Sie fordern Meinungsfreiheit, die Trennung von Religion und Staat, den Respekt der Menschenrechte, die Abschaffung der Todesstrafe und der Folter.
Die Repression ist schrecklich. Gemäss Amnesty International haben die Mordgesellen der Mullahs bereits über 700 Menschen auf der Strasse erschossen, darunter 87 Kinder. Über 30 000 Demonstrantinnen und Demonstranten sollen bisher verhaftet worden sein und viele von ihnen grausam gefoltert. Das Regime lässt sogar die Leichen seiner Opfer aus Spitälern stehlen, um zu verhindern, dass die im schiitischen Iran sehr wichtigen Beerdigungsriten Anlass zu neuen Protestmärschen bieten.
Die todesmutigen Revolutionärinnen und Revolutionäre verdienen unsere Bewunderung und aktive Solidarität. Sie kämpfen, leiden und sterben für die Freiheit, für die demokratischen Rechte aller Völker. Ihre Opferbereitschaft ist der Beweis für die Unbesiegbarkeit des menschlichen Geistes.
STAATSVERBRECHEN. Amnesty International bezeichnet die Repression der Mullahs als ein «permanentes Verbrechen gegen die Menschlichkeit» und verlangt die Auslieferung der Verantwortlichen an den Internationalen Strafgerichtshof. Am 24. November trat der Uno-Menschenrechtsrat in Genf zu einer Sondersitzung zusammen. Gegen 6 Gegenstimmen – unter anderem von China und Russland – und 16 Enthaltungen, verurteilte eine Mehrheit der 47 Mitgliedstaaten die Morde der Mullahs und setzte eine internationale Kommission ein, die die iranischen Staatsverbrechen untersuchen soll. Im Bundesrat wurde heftig diskutiert. Denn die Schweiz vertritt mit ihren guten Diensten die USA in Iran und Iran in den USA. Schweizer Diplomaten rieten daher zu absolutem Stillschweigen. Schliesslich aber siegte die Vernunft: Auch die Schweiz unterschrieb die Uno-Resolution und stimmte für die Untersuchungskommission. Und das ist gut so.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein im letzten Jahr im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam jetzt als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.
Sind das nicht so Jungs, die Ziegler normalerweise gut findet?