Belarus verbietet unabhängige Gewerkschaften, doch:
Schweigen kommt nicht in Frage

Die Gewerkschaftsbewegung von Belarus wuchs und wuchs. Dann holte Machthaber Lukaschenko zum Vernichtungsschlag aus. Doch einige Aktive entkamen dem Gefängnis – und kämpfen weiter.

PROTESTWELLE: Zehntausende gingen 2020 in Belarus wegen Wahlbetrugs auf die Strasse, vielerorts kam es zu Streiks.  (Foto:Keystone)

Bestenfalls vier Jahre Gefängnis, schlimmstenfalls zwölf Jahre Arbeitslager – das droht Alexander Yaroshuk (71). Er ist Vizepräsident des Internationalen Gewerkschaftsbunds, Direktionsmitglied der Uno-Arbeitsorganisation ILO in Genf und Präsident des Belarus­sischen Kongresses der Demokratischen Gewerkschaften (BKDP). Doch seit acht Monaten sitzt Yaroshuk in Untersuchungshaft. Nun wird ihm am 20. Dezember in Minsk der Prozess gemacht. Er soll die «nationale Sicherheit» bedroht haben.*

Tatsächlich hatte der Gewerkschafter bloss kritisiert, dass Präsident Alexander Lukaschenko (68) Belarus als Aufmarschgebiet für die russische Armee preisgab. Yaroshuk sagte öffentlich: «Es ist die grösste Schande, wir können dazu nicht schweigen.» Und: «Wir verlangen das sofortige Ende der Feindseligkeiten und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine und aus Belarus.» Wenige Tage später, am 19. April, wurde Yaroshuk von Geheimdienstlern abgeholt. So erging es an jenem Tag noch 18 weiteren Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern – fast der ganzen Führungsriege des BKDP.

Seit 2020 haben über 300’000 Menschen das Land verlassen.

STREIKS GEGEN WAHLBETRUG

Hätte sie nicht bereits im Berliner Exil gelebt, wäre wohl auch Maryia Taradetzkaya (34) verhaftet worden. Die Marketingspezialistin war während der Massenproteste in den Jahren 2020 und 2021 zu einer zentralen Figur des BKDP aufgestiegen. Der Protest entbrannte damals an der offensichtlichsten aller Wahlfälschungen, seit Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen war: Offiziell holte er über 80 Prozent der Stimmen. Obwohl seine Beliebtheitswerte im Keller lagen. Lukaschenko hatte sich zuvor als Corona-Leugner zu profilieren versucht. Oder mit Sprüchen wie «lieber Diktator als schwul».

Die «gestohlene Wahl» trieb Hunderttausende auf die Strassen – 10 Monate lang. In vielen Fabriken und erstmals auch in der boomenden IT-Branche entstanden Arbeiterräte. Auf spontane Protestpausen folgten politische Streiks. Taradetzkaya sagt: «Es herrschte eine nie dagewesene Aufbruchstimmung – trotz der Angst.» Voller Enthusiasmus entwickelte sie für den BKDP eine Online-Kampagne. Taradetzkaya erklärt: «Wir haben überall dazu aufgerufen, aus den Staatsgewerkschaften aus- und den unabhängigen beizutreten.» Die unabhängigen Gewerkschaften wuchsen um 20 Prozent – auf zuletzt 11’000 Mitglieder. Mit «Staatsgewerkschaften» meint Taradetzkaya den Gewerkschaftsbund von Belarus (FPB).

BRUTALER STAATSKAPITALISMUS

Er hat sowjetische Wurzeln und ist noch heute der verlängerte Arm der Regierung. Sein Vorsitzender wird direkt von der Präsidialverwaltung in Minsk ernannt. Lukaschenko machte sich den FPB-Obersten sogar zum persönlichen Wahlkampfchef. Die 4 Millionen FPB-Mitglieder sind allerdings längst nicht alles Anhänger Lukaschenkos, sondern haben kaum eine Wahl. Taradetzkaya erklärt: «In Belarus haben wir eine Art Staatskapitalismus. 65 Prozent der Firmen sind in staatlicher Hand. Und die Privatfirmen sind oft im Besitz von Regimetreuen. Wer dort einen Job will, kommt um eine FPB-Mitgliedschaft nicht herum.» Es gebe viele Methoden, um die Lohnabhängigen zu gängeln. Durch staatliche Aufpasser etwa, die in jeder Personalabteilung hockten. Oder durch die extreme Jobunsicherheit: 90 Prozent aller Anstellungsverhältnisse sind befristet, im Normalfall auf nur ein Jahr! Und wer zu lange arbeitslos bleibt, gilt offiziell als «Sozial­schmarotzer» und muss die «Parasitensteuer» bezahlen. Umgerechnet bis zu 200 Franken pro Jahr kostet diese. Zum Vergleich: der nationale Mindestlohn beträgt 177 Franken im Monat.

URBAN: In Belarus leben rund 9,3 Millionen Menschen, vor allem in Städten. Wichtigster Wirtschaftszweig ist die Industrie. (Foto: Adobe)

GROSSE «SÄUBERUNG»

Die Demokratiebewegung kam jedenfalls nicht an gegen die Repression des Staates. Mindestens 50 000 Menschen wurden verhaftet, davon laut Uno über 450 gefoltert. Auch Vergewaltigungen sind protokolliert. Die Todesstrafe wurde ausgeweitet. Und noch immer gibt es fast 1500 politische Gefangene. Die Folge: Seit 2020 haben über 300’000 Menschen das Land verlassen.

Und die unabhängigen Gewerkschaften? Behördenschikanen kennen sie seit ihrer Gründung in den 1990ern. Zerschlagen wurden sie aber nie. Ihre Verbindung mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung bot einen gewissen Schutz. Selbst als Lukaschenko 2021 eine grosse «Säuberung» ausrief und Dutzende NGO verbot, war der BKDP nicht betroffen. Taradetzkaya sagt ­sogar: «Unsere Verbände waren die letzten demokratischen Einheiten im Land.» Seit April jedoch sind alle BKDP-Gewerkschaften verboten – teils als «extremistische Vereinigungen». Die Führungsriegen sind abgetaucht, im Hausarrest, im Gefängnis oder – wie Taradetzkaya – im Exil. Sie und ihr Netzwerk geben aber nicht auf, sondern organisieren sich neu. Vorerst über die Plattform Salidarnast.info. Dort werden alle verfügbaren News zu den inhaftierten Mitgliedern geteilt – auch auf englisch.

Ob sich Lukaschenko davon beeindrucken lässt? Immerhin kam vor wenigen Tagen eine berühmte Streikführerin frei. Und auch in Genf tut sich was: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat im November beschlossen, gegen das Mitgliedsland Sanktionen vorzubereiten. ILO-Sanktionen hat es in der Geschichte erst einmal gegeben – 1998 gegen die Militärdiktatur in Myanmar.

* Nachtrag: Nach einem einwöchigen Schauprozess wurden am 26. Dezember die Spitzen der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung zu Gefängnisstrafen von 1,5 bis 4 Jahren verurteilt. Dies wegen angeblich «schwerwiegenden Taten gegen die öffentliche Ordnung» und Aufrufe zu Sanktionen. Tatsächlich hatten die Gewerkschaften bloss den Krieg gegen die Ukraine kritisiert.

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