Die grassierende Inflation stürzt Grossbritannien in die Krise. Besonders dramatisch ist die Lage in den Spitälern und beim Notfalldienst. Doch statt auf Lohnerhöhungen setzt Premier Rishi Sunak auf Konfrontation.
KÜRZUNGEN KOSTEN LEBEN: Grossbritanniens Pflegerinnen streiken für mehr Lohn und gegen die prekäre Lage des Gesundheitssystems. (Foto: Getty)
Für die Britinnen und Briten gehört ein Blick in den Streikkalender in diesem Winter zur täglichen Routine. Kann ich mit dem Zug zur Arbeit, oder streiken die Eisenbahner gerade? Ist mit einer Postlieferung zu rechnen, oder legen die Pöstlerinnen heute die Arbeit nieder? Kann ich die Ambulanz rufen, oder sind die Rettungssanitäter im Ausstand?
Die grosse britische Streikwelle, die im Sommer begann (work berichtete: rebrand.ly/streikwellen-reiter), rollt ungebremst weiter. Inmitten der schlimmsten Krise der Lebenshaltungskosten – vor allem ausgelöst durch extrem hohe Preise für Strom und Gas – ist eine breite, sektorübergreifende Bewegung für angemessene Löhne entstanden. Auf ihrem bisherigen Höhepunkt im Dezember, so schätzen Expertinnen und Experten, konnten eine Million Streiktage gezählt werden – das wäre der stärkste Streikmonat seit dreissig Jahren. Mit dabei: Stellwerker, Putzpersonal, Anwältinnen, Zugführer, Grenzbeamtinnen, Fahrprüfer und viele mehr.
«Wenn wir da sind, sind die Patienten schon tot.»
130 000 MITARBEITENDE FEHLEN
Zuletzt sorgten vor allem Mitarbeitende des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS für Wirbel. Zum ersten Mal überhaupt haben sich die Pflegenden vom Berufsverband Royal College of Nursing (RCN) entschlossen, in den Ausstand zu treten. Die offerierte Lohnerhöhung von 4 bis 5 Prozent sei schlichtweg zu mager, sagen sie. Im Dezember und im Januar streikten zudem rund 20 000 Rettungssanitäterinnen und -sanitäter.
Rishi Sunak. (Foto: Key)
Den NHS-Angestellten geht es nicht nur um ihre eigenen Löhne, sondern ums Überleben des gesamten Gesundheitsdiensts. Die miese Bezahlung, der Stress und die Überarbeitung führen dazu, dass in den zwölf Monaten bis Juni 2022 zehn Prozent der Rettungssanitäter den NHS verliessen. Die Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden: Im gesamten NHS fehlen über 130 000 Mitarbeitende, in der Pflege sind fast zwölf Prozent der Stellen frei.
Der Personalmangel hat dramatische Folgen, zum Beispiel im Notfalldienst. Heute braucht eine Ambulanz im Durchschnitt doppelt so lange wie vor zwei Jahren, um zu den Patientinnen und Patienten zu gelangen. In jenen Fällen, wo Lebensgefahr besteht, sollte der Rettungsdienst innerhalb von 7 Minuten vor Ort sein – aber heute dauert es im Durschnitt fast 10 Minuten. Dave Robb, der im Notfalldienst im Nordwesten Englands arbeitet, sagte dem britische Sender BBC: «Uns fehlen Fahrzeuge und Mitarbeitende, und wir werden so oft gerufen, dass wir zu spät ankommen. Wenn wir da sind, sind die Patienten schon tot.» Solch desolate Zustände ziehen sich durch den gesamten NHS – von der Krankenpflege in den Spitälern bis zu Routineoperationen, wo die Wartelisten so lange sind wie noch nie zuvor. Der Gesundheitsdienst steht kurz vor dem Kollaps.
ANTI-STREIK-GESETZ
Aber die Regierung bleibt uneinsichtig. Eine Lohnerhöhung könne sich das Land nicht leisten, heisst es. Stattdessen geht der konservative Premierminister Rishi Sunak auf Konfrontation. Die Regierung brachte eine Gesetzesvorlage ins Parlament, die künftige Streiks empfindlich schwächen würde. Das Anti-Streik-Gesetz würde vorschreiben, dass bei Streiks in Sektoren wie dem Transport- und Gesundheitswesen eine bestimmte Zahl von Mitarbeitenden weiterhin arbeiten müssten. Betroffen wären die Eisenbahn, der Rettungsdienst und die Feuerwehr. Wenn ein Minimalbetrieb nicht beibehalten werden kann, droht den Mitarbeitenden die Entlassung. In anderen Bereichen, etwa bei den Lehrerinnen und Lehrern, hofft die Regierung, zu einer «vernünftigen und freiwilligen Einigung» über einen solchen minimalen Grundbetrieb zu kommen – sollte dies jedoch nicht gelingen, könnte sie die Regierung einfach dazu zwingen.
Premierminister Sunak argumentiert, dass die Vorlage den Zweck habe, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Die Gewerkschaften sind entrüstet. Mick Lynch, Generalsekretär der Transportgewerkschaft RMT, stellt klar: «Dies ist ein Angriff auf unsere Menschen- und Bürgerrechte, und wir werden Widerstand leisten in den Gerichten, im Parlament und an unseren Arbeitsorten.» Die linke Labour-Partei hat der Vorlage den Spitznamen «Feuert-die-Pfleger-Gesetz» gegeben.
GROSSE STREIK-ZUSTIMMUNG
Noch hält die Regierung an ihrer kompromisslosen Haltung fest und schliesst Lohnverhandlungen aus. Was ihr jedoch Sorgen bereiten dürfte: Bei der Öffentlichkeit stossen insbesondere die streikenden NHS-Mitarbeitenden weiterhin auf viel Zustimmung. Eine neuere Umfrage zeigt, dass 60 Prozent der Bevölkerung den Ausstand der Pflegenden unterstützen. Die Hälfte findet, die Regierung sollte deren Löhne erhöhen, nur 23 Prozent sind dagegen.
Wie geht es weiter? Es gibt kaum Hinweise, dass den Streikenden die Luft ausgeht. Die Pflegenden streikten bereits auch im neuen Jahr, und die Rettungsfahrerinnen und -fahrer werden am 23. Januar ihren dritten Streiktag abhalten. Zudem sind weitere Ausstände von Busfahrern geplant. Und immer mehr Lohnabhängige stossen hinzu: Mehrere Hunderttausend Lehrerinnen und Lehrer in England und Wales stimmten für den Streik, mit einer überwältigenden Mehrheit von über 90 Prozent. Der erste von mehreren Streiktagen ist der 1. Februar.