Elektrizitätsmarkt: Liberalisierungsturbos geben nicht auf
Strom-Clowns sind wieder unterwegs

FDP-Nationalrat Matthias Jauslin will auch die Haushalte den Spekulanten ausliefern. Obwohl der Strommarkt gerade eklatant versagt. Doch Jauslin ist nicht der einzige.

UNVERBESSERLICH: (v.l.) GLP-Präsident Jürg Grossen, FDP-Nationalrat Matthias Jauslin, SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, Mitte-Politiker Nicolo Paganini. (Fotos: iStock / Keystone)

Die sogenannte vollständige Liberalisierung des Strommarktes ist ein Lieblingskind der Wirtschaftsverbände und der rechten Parteien. Immer und im- mer wieder bringen sie diese aufs Tapet. Bislang erfolglos – zum Glück der privaten Haushalte und der meisten KMU. Den neusten Versuch startet jetzt FDP- Nationalrat Matthias Jauslin aus dem Atomkanton Aargau. Weil der Ständerat die Totalliberalisierung in der Wintersession vernünftigerweise aus dem neuen Stromversorgungsgesetz gestrichen hat, versucht Jauslin es jetzt über den Nationalrat. Die «Sonntagszeitung» bot ihm eine grosse Bühne, schrieb ganz euphorisch über die lockende «Wahlfreiheit» und fand noch drei Spiessgesellen von Jauslin: GLP-Präsident Jürg Grossen (BE), SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (BL) und Mitte-Politiker Nicolo Paganini (SG). Letzterer freut sich auf «zusätzliche Dynamik im Markt und innovative Stromprodukte».

Der Ständerat sagt vernünftigerweise Nein zur Totalliberalisierung.

GEWERBEVERBAND GEHEILT?

Was «zusätzliche Dynamik im Markt» bedeutet, erleben jetzt gerade viele der rund 23 000 Firmen, die unter dem heroischen Motto «Einmal frei, immer frei» in das Stromcasino stürmten. Ihre Stromkosten steigen teilweise um mehrere Hundert (!) Prozent. Sie verbrauchen mehr als 100 000 Kilowattstunden Strom pro Jahr und müssen deshalbnicht bei den lokalen Elektrizitätswerken einkaufen, sondern können sich auf dem «freien Markt» eindecken. Einige Gewerbler und Wirte liessen ihre grössten stromfressenden Maschinen dem Vernehmen nach sogar «leer» laufen, um auf den für die «Freiheit» nötigen Verbrauch zu kommen, und Eintritt ins Stromcasino bekamen (mehr zu den Hintergründen: rebrand.ly/kein-unfall).

Zu den lautesten Trompetern für eine vollständige Strommarktliberalisierung gehört der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) unter dem Neo-SVP-ler Hans-Ulrich Bigler (hier im Portrait: rebrand.ly/ saeuliamt). Ein SGV-Zitat von vor nicht allzu langer Zeit: «Der Strommarkt ist endlich ganz zu liberalisieren. Der SGV steht zu einer marktwirtschaftlichen Energiepolitik. Sie belohnt Energieeffizienz und setzt auf unternehmerische Freiheit, Innovation und Marktliberalisierung.» Als dann letztes Jahr die Strompreise explodierten, wollte SGV-Bigler die Opfer seiner Ideologie wieder bedingungslos in den regulierten Markt aufnehmen – auf Kosten der Vernünftigen, die nicht aus der Grundversorgung geflüchtet waren. Da war dann nichts mehr mit «Eigenverantwortung» und «unternehmerischem Risiko».

REGULIERTER MARKT

Doch Häme ist fehl am Platz. Denn die Lohnabhängigen leiden am meisten unter der Marktgläubigkeit ihrer Chefinnen und Chefs. Sie müssen um ihre Jobs zittern oder sind von Mindereinkommen wegen Kurzarbeit bedroht. Darum haben fortschrittliche Parteien und die Gewerkschaften praktikable Lösungen vorgeschlagen. Besonders für die Branchen, die am stromintensivsten sind. Für sie soll ein Fonds aus abgeschöpften Krisengewinnen der Stromkon- zerne geäufnet werden, der ihnen einen Teil des Verbrauchs zu Herstellungskosten liefert.

Besser dran als die Marktgeschädigten sind die Haushalte und jene Firmen, die nicht im Stromcasino zocken. Im Durchschnitt wird der Strom in der Schweiz für Private und Firmen im reglementierten Markt um 27 Prozent teurer. Doch wie es so ist mit Durchschnittswerten: einige müssen kaum mehr als bisher bezahlen, andere bis 280 Prozent. Am teuersten wird es für jene Haushalte und Firmen, die bei einem Elektrizitätswerk sind, das selber keinen Strom produziert, sondern nur damit handelt. Also möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen will.

Auch wenn dank dem regulierten Markt die Strompreiserhöhungen geringer ausfallen als auf dem freien, ist die Belastung für Zehntausende Haushalte enorm. Gerade für solche mit kleinen und mittleren Einkommen. Die Gewerkschaften und die fortschrittlichen Parteien fordern deshalb einen Strompreisdeckel und Entlastungen für Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen. Finanziert werden sollen auch diese aus den Krisengewinnen, die von Stromkonzernen eingefahren werden.

GEWERKSCHAFTLICHER ERFOLG

SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, der selbsternannte «Vertreter der sozialdemokratischen Verantwortungslinken», steht heute in der SP-Fraktion in Sachen Strommarkt ziemlich allein auf weiter Flur.

Vor 23 Jahren wäre er noch in der Mehrheit gewesen. Denn im Jahr 2000 waren noch zwei Drittel der SP-Fraktion im Nationalrat für die Radikalliberalisierung. Begründung unter anderen: «Die freie Wahl eines Stromlieferanten zählt für uns zu den Menschenrechten.» Auch eine hauchdünne Mehrheit der damaligen Fraktion der Grünen stimmte zu. Beide Bundeshausdelegationen mussten von ihrer jeweiligen Basis zur Besinnung gebracht werden.

Die Wirtschaftsverbände führten eine Millionenkampagne für das Gesetz. Und das Umwelt-, Verkehrs- und Energiedepartement (UVEK) unter der damaligen Führung von SP-Bundesrat Moritz Leuenberger griff auch die Gewerkschaften an, die erfolgreich das Referendum ergriffen hatten. Zitat aus einer UVEK-Propagandaschrift: «(…) zeigt, dass einige Gewerkschaften die Interessen ihrer eigenen Basis vernachlässigen». Was damals den heutigen SGB-Präsidenten Pierre-Yves Maillard im Nationalrat zu einer Interpellation veranlasste. Er fragte den Bundesrat unter anderem: «Ist er (der Bundesrat) sich bewusst, dass in ‹einigen Gewerkschaften› die Basis selbst die wichtigen Entscheidungen trifft? Beim Smuv zum Beispiel entscheiden der Kongress, die Branchenversammlung und der Zentralvorstandc.» Und: «Ist er (der Bundesrat) bereit, den Direktor des BFE (Bundesamt für Energie) zu entsenden, damit dieser den Gewerkschaften einen Vortrag darüber hält, wie man den gewerkschaftlichen Kampf führt und die Basis konsultiert?»

Die Antwort des Bundesrates vom 11. September 2002 fiel sehr schmallippig aus. 11 Tage später versenkte das Volk die Vorlage.

 

Klimafonds-Initiative: Jetzt unterschreiben!

Die Klimakrise geht praktisch ungebremst weiter. Und der Klimawandel ist eine soziale Frage. Deshalb braucht es sozialverträgliche und gemeinschaftliche Lösungen. Die SP und die Grünen haben deshalb die Klimafonds-Initiative lanciert. Sie wird von den Gewerkschaften unterstützt. Unia- Präsidentin Vania Alleva ist Erstunterzeichnerin.

 

STROM SICHERN. Die Initiative will mit öffentlichen Investitionen unser Land auf erneuerbare Energien umstellen und genügend Strom für die Zukunft sichern. Das stärkt die Infrastruktur und das lokale Gewerbe. Das bringt gute Arbeitsplätze und schafft Versorgungssicherheit. Und es befreit die Schweiz aus der Abhängigkeit von Oligarchen und Autokraten. klima-fonds.ch

 

 

1 Kommentare

  1. Peter Bitterli 23. Februar 2023 um 22:12 Uhr

    Ja sicher: Strommarkt in den Händen der Unia. Flackerlämpchen und Rattermaschinen in Wetter- und Jahreszeitszyklen. Unterbrochen durch erzieherisch wertvolle Kerzleinbrettspielabende.

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