Elf Frauen, ein Skandal: Sexuelle Belästigung im Gastgewerbe
Angebaggert, angefasst und angespuckt

Ob im Service, hinter der Bar oder an der Réception: Sexuelle Übergriffe sind im Gastgewerbe noch immer gang und gäbe. Elf mutige Frauen berichten work von ihren haarsträubenden Erlebnissen.

BELÄSTIGT UND BEDROHT: Blöde Anmachen und sogar körperliche Übergriffe gehören für viele Gastro-Mitarbeiterinnen zum Alltag – und die Vorgesetzten schauen oft weg. (Foto: Getty)

Der Branchenverband Gastrosuisse will von sexu­el­­­­ler Belästigung im Gastgewerbe nichts wissen. Dem Verband seien keine Fälle bekannt, und er sehe auch keinen Handlungsbedarf (work berichtete: rebrand.ly/beizer-schauen-weg). Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Noch immer kommt es viel zu oft vor, dass Männer das «Fräulein» belästigen und begrapschen.

Bei Belästigung und Gewalt: Hier gibt’s Hilfe

Wer sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, kann sich Unterstützung bei der Gewerkschaft Unia holen: rebrand.ly/sexuelle-belaestigung

In Zürich und Luzern treffen sich Betroffene
im «Gastra Kollektiv» zum Austausch und Aktivwerden: rebrand.ly/gastra-kollektiv

Zudem hat das eidgenössische Gleichstellungsbüro eine Zusammenfassung erstellt, wie Angestellte bei sexueller Belästigung handeln sollten: rebrand.ly/Informationen-fuer-arbeitnehmer

Für Betroffene von anderer Gewalt, wie beispielsweise Drohungen, häuslicher Gewalt oder Stalking, ist die Opferhilfe Schweiz eine Anlaufstelle: rebrand.ly/hilfe-schweiz

Elf mutige Frauen haben mit work über die Übergriffe am Arbeitsplatz gesprochen. Viele von ihnen meinen: «Sexuelle Belästigung passiert so oft, dass sie fast schon zum Beruf gehört.» Das Problem sind aber nicht nur respektlose Gäste, sondern auch übergriffige Kollegen und verständnislose Vorgesetzte.

STAMMGÄSTE WICHTIGER ALS PERSONAL

Jil Cavelti* (27) hat eine Hotelfachschule im Graubünden besucht. Sie hat schon in Küchen, im Service und in einer Bar gearbeitet. Und weiss aus Erfahrung: «Dort, wo Gäste mehr Geld haben, ist der Respekt vor dem Personal kleiner.» Sie berichtet von ihrer Zeit als Barkeeperin im Zürcher Bankenviertel. Wenn sie die Stehtische abräumte, fassten sie Gäste an die Hüfte oder klopften auf ihren Hintern. «Es ist schwierig, sich in solchen Momenten direkt zu wehren, wenn man noch ein volles Ta­blett in den Händen hält», sagt sie. Bei der Arbeit erhielt sie von den Anzugträgern auch oft unangebrachte Sexangebote.

Das hat auch Sascha Golay* (24) erfahren. Sie arbeitet neben dem Studium im Service an der Luzerner Fasnacht und hinter der Bar in einem Club. Bei Flirtversuchen von Gästen erwähnt Golay jeweils, dass sie einen Freund hat. Doch ein Clubbesucher liess sich davon nicht bremsen und baggerte sie weiter an. Er sagte: «Dein Freund scheint kein richtiger Mann zu sein. Also ich würde dich so richtig durchnudeln, bis dein ganzer Körper rot wäre.» Golay war entsetzt: «Ich war so angeekelt. Rausschmeissen durfte ich ihn aber nicht, weil er Stammgast war.» Und sowieso: «Zeit, um richtig zu reagieren, hat man im Stress oft nicht.»

Selma Jurić* (25) kennt den Konflikt mit den Stammgästen. Sie sagt: «Ich finde, Vorgesetzte müssen sich bei Belästigungen im Betrieb immer hinter das Personal stellen – auch wenn es Stammgäste sind.» Sie erzählt von einem Erlebnis im ­Service eines edlen Restaurants. An einem Abend bediente sie eine Gruppe junger Männer. «Einer davon machte sich einen Spass daraus, mich zu nerven. Er kommandierte mich herum und bestellte andauernd Drinks. Irgendwann habe ich ihm gesagt, dass er mich bei der Arbeit stört», sagt Jurić. Daraufhin habe der Gast alle seine angefangenen Drinks ex geleert. Den letzten Schluck spuckte er Jurić ins Gesicht. «Ich kochte vor Wut!» sagt die junge Frau. Etwa sechs Monate nach diesem Vorfall verliess sie den Betrieb und den Beruf.

Die Herabwürdigung von Servicemitarbeiterinnen hat System: Alba Diaz* (24) arbeitete kurze Zeit an der Bar eines Bowlingcenters. Bereits bei ihrem Anstellungsgespräch degradierte ihre Chefin sie zum Sexobjekt, indem sie sagte: «Für mehr Trinkgeld lohnt es sich, wenn du roten Lippenstift aufträgst und ein bisschen deine Brüste zeigst.»

«Für mehr Trinkgeld lohnt es sich, wenn du roten Lippenstift aufträgst und ein bisschen deine Brüste zeigst.»

SICH WEHREN, ABER WIE?

Anastasia Novak* (26) arbeitete als Praktikantin an der Recéption eines Zürcher Luxushotels. Kurz nach diesem Praktikum wandte sie der Hotellerie jedoch bereits wieder den Rücken zu. Novak sagt: «An der Recéption hatten wir zwei Uniformen: Rock oder Hosenanzug. Beide Optionen waren hauteng.» Sie fühlte sich unwohl, denn ihre Kollegen kommentierten ständig ihren Körper. «Wow, in diesen Hosen siehst du verdammt sexy aus!» hiess es. Gewehrt hat sich Novak nicht, weil: «Ich dachte ständig, dafür muss mehr passieren.»

Ein Mitarbeiter von Julia Lüscher* (22) belästigte die junge Barkeeperin ebenfalls – mit Berührungen und Worten. Weil er aber ein guter Freund vom Chef war, scheiterten jegliche Versuche, sich zu wehren. «Mein Chef hat mir in einem Gespräch versichert, dass ich nicht die einzige Belästigte im Betrieb sei. Konsequenzen gab es für den Mitarbeiter trotzdem keine», sagt Lüscher. Sie wurde nicht ernst genommen. Schlimmer noch: «Fast alle Kolleginnen und Kollegen stellten sich auf seine Seite!» Irgendwann konnte die Barkeeperin die Umstän­de nicht mehr ertragen und kündigte.

Die Serviceangestellte Chiara Pasci* (21) nahm all ihren Mut zusammen und wehrte sich gegen ­einen Kollegen. Dieser kam an einem freien Abend ins Lokal. «Er baggerte mich widerlich an und sagte mir irgendwann, dass er sich bei der Arbeit richtig beherrschen müsse, mir nicht die Kleider vom Körper zu reissen», erzählt Pasci. Sie sprach über diesen Vorfall mit einer Arbeitskollegin, und es stellte sich heraus, dass er mehrere Mitarbeiterinnen im Betrieb belästigte. Pasci sagt: «Wir haben als Grup­­pe unsere Vorgesetzten informiert und gefordert, den Kollegen zu verwarnen. Vom Kollegen selbst wollten wir eine Entschuldigung und dass er einen Konsenskurs besucht.» In diesem Kurs lernte der Kollege, was sexuelle Belästigung bedeutet und wo die Grenzen liegen. Pascis Mut hat sich gelohnt: «Bis jetzt ist uns kein weiterer Übergriff seinerseits bekannt. Aber wir haben ihn im Blick.»

«EIN KAFI, EIN GIPFELI — UND DICH DAZU»

Verbale Übergriffe seien in der Gastrobranche gängig und «gehören fast schon dazu», berichten viele der Betroffenen gegenüber work. Bei Carmen Ryser* (25) meinte ein Gast bei seiner Bestellung: «Ein Kafi, ein Gipfeli – und dich gerne auch noch dazu.» Sie war sprachlos und wütend. Die Barista Ariana Beqiri* (20) vergass beim Espressoservieren, das­ ­dazugehörige Wasserglas aufzufüllen. Ihr Gast meinte dann, das könne er auch selber tun. «Aber mit einer nicht so ganz durchsichtigen Flüssigkeit», sagte er augenzwinkernd. Seine Freunde am Tisch lachten, Beqiri erstarrte und lief davon.

«Ich find es so schön, dass du keinen BH trägst und man deine Brüste so gut sieht!» Das musste sich Mona Stutz* (25) von einem Gast anhören. Sie erwiderte: «Geht’s noch!?» Der Gast meinte darauf, dass es doch nur ein Kompliment sei, sie solle sich nicht so anstellen. Auch Lea Bachmann* (25) wurde mit Worten belästigt. «Oft musste ich mir an Tischen mit Männergruppen Dinge anhören wie: «Willst du nicht zum Dessert bleiben?» Besonders häufig, wenn Alkohol floss, sagt die 25jährige.

*Name geändert


Neues Sexualstrafrecht «Nein heisst Nein»

Die Revision des Sexualstrafrechts ist in vollem Gange. Warum die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Ständerat ein guter Kompromiss ist.

HÖCHSTE ZEIT: Aktivistinnen machen sich für die «Ja heisst Ja»-Lösung stark. (Foto: Key)

In Bundesbern bahnt sich ein historischer Durchbruch beim Sexualstrafrecht an. Neu soll gelten: Geschlechtsverkehr gegen den Willen einer Person ist auch ohne Gewalt oder Zwang eine Vergewaltigung. Ein riesiger Fortschritt. Auch wenn Aktivistinnen und feministische Organisationen die Verankerung des Grundsatzes «Ja heisst Ja» gefordert hatten, womit Geschlechtsverkehr nur mit ausdrücklicher Zustimmung als einvernehmlich gilt. Der Ständerat wie­derum bleibt bei der «Nein ist Nein»-­Lösung, die nur eine Ablehnung verlangt. Aber mit wichtigen Änderungen.

Eine der grössten Verbesserungen ist die Aufnahme des «Freezing» – also der Schockstarre – ins Sexualstrafrecht. In Gefahrensituationen kann der Körper nämlich in eine Bewegungsunfähigkeit fallen. Im Gesetz wird neu das Erstarren des Opfers bei sexuellen Handlungen als nonverbales «Nein» festgelegt. Richterinnen und Richter haben im revidierten Sexualstrafrecht zudem die Möglichkeit, Täter nebst der Strafe zu Lernprogrammen und Gewaltberatungen ­­zu verpflichten. Ein weiterer Erfolg: Die Vergewaltigungsdefinition ist neu geschlechtsneutral formuliert. So kann in Zukunft jede Person eine Vergewaltigung anzeigen, unabhängig vom Geschlecht.

«Sex ohne Zustimmung ist Gewalt.»

NATIONALRAT FORTSCHRITTLICHER

Die Berner SP-Nationalrätin Tamara ­Funiciello kämpft seit Jahren in einem breiten Bündnis für eine Verbesserung des Sexualstrafrechts. Sie sagt zu work: «Die drei massiven Verbesserungen in dieser Gesetzesrevision sind unsere Errungenschaften. Sie sind im Vergleich zum Status quo ein historischer Fortschritt. Aber sie sind erst der Anfang. Aufbauend auf dieser Revision führen wir den Kampf für die sexuelle Selbst­bestimmung aller weiter. Unsere Botschaft bleibt: Sex braucht immer die ­Zustimmung aller Beteiligten. Alles andere ist Gewalt!»

Nun geht die Revision des Sexualstrafrechts zurück in den Nationalrat. Dieser stimmte ursprünglich sogar für eine «Ja heisst Ja»-Lösung. Der Entscheid fällt voraussichtlich im Sommer.

Buchtipp: «Hast du Nein gesagt?»

Das im Limmat Verlag erschienene Buch «Hast du Nein gesagt?» beschäftigt sich mit dem Umgang mit sexua­lisierter Gewalt und kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Autorinnen
Miriam Suter und Natalia Widla geben Betroffenen eine Stimme und nehmen die Polizei, die Beratungsstellen sowie das Recht unter die Lupe. Die persön­lichen Geschichten stimmen nachdenklich. Denn in der Schweiz ist jede fünfte Frau von sexualisierter Gewalt betroffen. Nur acht Prozent davon zeigen den Täter an. Mehr zum Buch: rebrand.ly/neingesagt. (dak)

 

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