Marius Käch ist Bauarbeiter in Zürich und Gewerkschafter.
Bei morgendlichen Minusgraden sind wir fleissig am Schalen einer Decke. Dreibein stellen, Spriess holen, dann rein mit dem Längsträger. Abstand und Höhe richten und versperren mit dem Schalbrett. Reihe um Reihe bereiten wir vor, damit wir am Nachmittag speditiv die Querabrippung auslegen und eine schöne Quadratmeterzahl Schaltafeln verteilen können.
Doch kurz vor Mittag passiert es. Ein Längsträger hat sich verklemmt, 10 cm oberhalb vom Spriess. Ich hänge mich voll rein, damit der Träger runterkommt. Der Kollege drückt von vorn, und schwups knallt das 5 Meter lange Kantholz voll auf den Spriess. Dumm nur, dass ich Einstein meinen Daumen dazwischen hatte.
Ein höllischer Schmerz, den in keinem wünsche. Sei’s drum, nach ein paar Minuten wird’s schon wieder werden. Leider nein. Der Daumen schwillt und schwillt … Zähne zusammenbeissen und durch. Das hilft zwar nicht, aber Absenzen sind auch nicht gern gesehen. Bis zum Mittag geht’s mit Ach und Krach.
Was zählt mehr: Stelle oder Gesundheit?
ZWICKMÜHLE. Doch jetzt sind wir in der Zwickmühle, die jede Handwerkerin und jeder Baukollege kennt: Was ist mir wichtiger, Stelle oder Gesundheit? Im Kopf ein Gedankenkarussell: Wie oft habe ich bereits gefehlt? Was passiert mit meinem Finger, wenn ich einfach weitermache? Das Abwägen ist ein harter Kampf. Zumal man die Kollegen nicht alleine lassen will, besonders nicht in Zeiten des Termindrucks und Personalmangels. Unsere Arbeit ist intensiv gestaffelt, jeder Einzelne ist eingeplant. Fällt einer aus, müssen die anderen sein Pensum leisten. Ein Frust, den man selber zu gut kennt.
Die eigene Arbeit wird einem vom Vorarbeiter und dem Polier zugeteilt. Die sind ständig im Sandwich: Unter ihnen die Bauarbeiter, oben die Chefs, die Druck ausüben. Und natürlich haben sie nicht nur schöne Aufgaben zu vergeben. Deshalb sollte man es sich mit ihnen nicht verscherzen. Ausser man will nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz unbedingt die härtesten und dreckigsten Jobs erledigen.
EIN RATTENRENNEN. So stehe ich nun im Zwist zwischen Rücksicht auf mich selbst und Rücksicht auf das Team. Zwischen Arztbesuch und Firmeninteresse. Zwischen eigener Gesundheit und beruflicher Laufbahn. Ein Dilemma als Produkt von Termindruck und Profitgier, ein Rattenrennen auf dem Rücken von uns Bauleuten.
Doch jetzt ist die Mittagspause fast um, und ich muss mich entscheiden. Arztbesuch oder weiterchrampfen? Schweren Herzens klopfe ich an die Baracke des Poliers. Damit riskiere ich zwar einen Rüffel. Oder Scherereien mit dem HR. Doch mein Daumen, der dankt.