Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.
Seit der Finanzkrise von 2008 hat die Armut trotz Erwerbstätigkeit (Working Poor) in der EU stark zugenommen. Um dem entgegenzuwirken, verabschiedeten das Europaparlament und der Rat der Arbeitsminister im Oktober 2022 ein neues EU-Rahmengesetz: die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union. Die Richtlinie sieht keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn vor. Das ist gut so, denn dafür sind die Lebenskosten in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlich. Stattdessen schreibt sie Prinzipien und Kennzahlen vor, welche die EU-Staaten berücksichtigen müssen. Künftig sollen alle Mindestlöhne einen «angemessenen Lebensstandard» garantieren. Zudem müssen gesetzliche Mindestlöhne mindestens so hoch sein wie 50 Prozent des Durchschnittslohns sowie 60 Prozent des Medianlohns aller Beschäftigten im jeweiligen Land. In Irland beispielsweise führt dies zu einer Lohnerhöhung von 20 Prozent.
Mindestens 80 Prozent der Beschäftigten müssen einen GAV haben.
KURSWECHSEL. In Ländern ohne gesetzliche Mindestlöhne stärkt die Richtlinie auch die Gewerkschaften, denn sie verpflichtet alle EU-Staaten, dafür zu sorgen, dass mindestens 80 Prozent aller Beschäftigten einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind. In Irland profitieren zurzeit nur gut ein Drittel der Beschäftigten von einem GAV. Kein Wunder, dass der Generalsekretär des irischen Gewerkschaftsbundes, Owen Reidy, die Richtlinie als einen fundamentalen Kurswechsel begrüsst.
STARRKÖPFIGER GERICHTSHOF. Owen Reidy weiss, wovon er spricht. Nach der Krise von 2008 verschrieben EU-Kommission und EU-Finanzminister ganz andere Rezepte, nämlich radikale Lohnsenkungen und die Deregulierung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV), und dies, obwohl die Lohnpolitik bis dahin als eine nationale Aufgabe angesehen wurde. Da Lohnpolitik ein wichtiger Faktor sei, um das «ordnungsgemässe Funktionieren» der europäischen Wirtschaft zu garantieren, wies der Europäische Gerichtshof jedoch alle Gewerkschaftsklagen gegen die Verschreibung dieser ungeniessbaren Rezepte zurück.
RETOURKUTSCHE. Zum Glück drehten die Gewerkschaften und ihre Verbündeten im Europaparlament den Spiess nun um. Die Arbeitgeber versuchten, die Mindestlohnrichtlinie mit juristischen Argumenten über die angeblich mangelnden EU-Kompetenzen in der Lohnpolitik zu stoppen. Ihre Rechnung geht jedoch nicht auf. Wenn die EU nach der Krise von 2008 mehreren Ländern ungestraft Lohnkürzungen verschreiben konnte, so muss die EU jetzt umgekehrt auch die Kompetenz haben, höhere Mindestlöhne einzufordern.