Vor sieben Jahren machte die Unia die brutale Ausbeutung von drei ungarischen Gipsern publik. Jetzt ist ein ganzes System aufgeflogen – und womöglich der grösste Fall von Menschenhandel im Schweizer Baugewerbe.
VOR GERICHT: Der Schweizer Gipsermeister jettete im Privat-Flugzeug durch die Welt, während er seine Arbeiter mit Gewaltandrohungen verängstigt und ausgebeutet haben soll. (Fotos: 20 Min / ZVG / Illu: Ninotschka.ch)
«Die Sieche söttsch all halte wie Sklave, wie imene KZ, vernichte, vergase, das Pack!» Oder: «Man muss die nehmen, die noch nie hier waren, und sie dann nach einem Jahr auswechseln, da sie schon hochnäsig geworden sind.» So und ähnlich redete Bauunternehmer L.M.* jahrelang über seine Angestellten. Das belegen abgehörte Telefongespräche, aus denen die Staatsanwältin an diesem Morgen zitiert.
Es ist der 15. Februar, der erste von zwei Prozesstagen gegen den heute 42jährigen Schweizer. Der Saal im Zürcher Bezirksgericht ist gut gefüllt – auch mit zahlreichen Medienleuten. Schliesslich handelt es sich laut Anklage um den bisher grössten Fall von Menschenhandel im Schweizer Baugewerbe. Der Beschuldigte soll von 2012 bis zu seiner Verhaftung 2017 Gipser aus Ungarn, Moldawien und Rumänien mit falschen Lohnversprechen in die Schweiz gelockt und hier zu Stundenlöhnen von 4 bis 9 Franken ausgebeutet haben. Und zwar laut Staatsanwältin nach dem immergleichen Geschäftsmodell: «Aus dem Ausland holen, zuerst gut behandeln, dann richtig auspressen und zuletzt fallenlassen.» Wer protestierte, sei bedroht worden. So habe der Chef einem Arbeiter ausrichten lassen, er werde ihm «in den Kopf schiessen», falls er noch einmal mit Streik drohe.
In total 24 Fällen macht die Staatsanwältin Menschenhandel geltend. Insgesamt sollen aber bis zu 100 Arbeiter ausgebeutet worden sein. Mit mindestens fünf Trockenbau- und anderen Firmen habe der Beschuldigte Millionen umgesetzt. Oft als Subunternehmer von Konzernen wie Implenia oder HRS. An Steuerbehörden und Sozialversicherungen habe der einschlägig Vorbestrafte keinen roten Rappen abgeliefert. So die Anklageschrift.
«Die Gipser hattem unglaubliche Angst. Einer weinte.»
POLIER HUI, BEHÖRDEN PFUI
Die Staatsanwältin fordert eine Freiheitsstrafe von
acht Jahren und vier Monaten – wegen Menschenhandels zur Ausbeutung der Arbeitskraft, gewerbsmässigen Wuchers und 14 weiteren angeklagten Delikten. Der Strafverteidiger hingegen plädiert in den meisten Punkten auf Freispruch. Sein Mandant sei zwar «ein schlechter Arbeitgeber», aber kein Menschenhändler. Ausserdem kritisierte er die Untersuchungshaft von 2017 bis 2020 als «unverhältnismässig lange». Vom Beschuldigten selbst gibt es kein Statement, denn er blieb dem Prozess fern. Allerdings bezeichnete er das Verfahren schon im Januar als «Justizskandal» und als «Steuergeldvernichtung». Dies geht aus einem Mail hervor, das er an sämtliche Zürcher Kantonsratsmitglieder geschickt hat.
Sicher ist: Bis zu seiner Verhaftung hatten Behörden und Amtsstellen aus der halben Deutschschweiz Scherereien mit ihm – insgesamt mindestens 70 Mal. Doch gestoppt wurde er nie. Auch die Arbeitskontrollstelle für den Kanton Zürich (AKZ) hatte seine Gipserbuden auf dem Radar – total sieben Mal. Immer rapportierte die AKZ ans Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA). Dieses untersteht einer Anzeigepflicht. Einmal meldete die AKZ ganz explizit: «Achtung: Verdacht betrügerische Handlung». Doch das FDP-geführte AWA griff nicht durch. Es war schliesslich ein Polier, der den Stein 2015 ins Rollen brachte.
Menschenhandel: Die Definition, die Schweiz, die Unia
Der Tatbestand Menschenhandel hat nach internationaler Definition drei Merkmale: Es braucht 1. eine aktive Anwerbung, Beförderung oder Beherbergung von Personen. Zudem müssen 2. unerlaubte Zwangsmittel wie Gewalt, Nötigung, Entführung, Betrug oder Täuschung zum Zug kommen. Dies 3. mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung, der Ausbeutung der Arbeitskraft oder der Entnahme von Körperoganen.
SELTEN EIN URTEIL. In der Schweiz tritt Menschenhandel am häufigsten in der Prostitution auf. Aber auch Nagelstudios, die Landwirtschaft oder der Bau sind Problemzonen. Die Unterform «Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung» verbietet das Schweizer Strafgesetzbuch seit 2006 explizit. Doch Strafurteile dazu sind extrem selten. Bis 2018 haben Gerichte nur zehn Urteile gesprochen. Das wirft Fragen auf. Denn die Schweizer Plattform gegen Menschenhandel, die Plateforme Traite, registrierte 71 Opfer allein fürs Jahr 2021. Die Schweiz müsse mehr tun, kritisierte eine Expertengruppe des Europarats schon mehrfach.
NEUER AKTIONSPLAN. Nun hat der Bundesrat im Dezember den dritten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel verabschiedet. Mit der Unia hat erstmals auch eine Gewerkschaft daran mitgewirkt. Bruna Campanello von der Unia-Geschäftsleitung ist trotzdem noch nicht zufrieden. Sie sagt: «Der Gisper-Fall zeigt es deutlich: Es ist unverzichtbar, dass die Unia tagtäglich auf den Baustellen und in den Betrieben präsent ist.» Zutrittsbeschränkungen für Unia-Leute seien völlig fehl am Platz. Und noch etwas zeige der Fall: «Dass es mehr Lohnschutz braucht und sicher nicht weniger, wie das bei den bisherigen Varianten zum Rahmenvertrag mit der EU der Fall gewesen wäre!» (jok)
Er war nämlich misstrauisch geworden, als auf seiner Baustelle in Zürich Wiedikon die Gipser einfach nicht nach Hause wollten – obwohl Freitagabend war!
Statt gegen den Chef ermittelte die Polizei gegen die Büezer.
MIT SCHLAGSTOCK BEDROHT
Es handelte sich um Ungarn, die kein Wort Deutsch verstanden. Also informierte er die damalige Unia-Sekretärin Christa Suter. Und die rückte sofort aus. Sie erinnert sich genau: «Ich habe gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Die Gipser hatten eine unglaubliche Angst. Einer begann sogar zu weinen. Das habe ich auf einer Baustelle noch nie erlebt!» Suter organisierte einen Übersetzer und fand heraus: Die Ungarn hatten ihre Löhne nicht bekommen und waren völlig pleite. Auch in ihre vom Chef gestellte Unterkunft in Uznach SG konnten sie nicht zurück. Aber nicht nur, weil es ein Abbruchhaus mit undichtem Dach war. Nicht nur, weil an den Wänden Schimmel wuchs und am Boden Maden krochen. Und auch nicht nur, weil sich bisweilen 12 Arbeiter eine Küche und ein WC teilen mussten. Unmöglich war eine Rückkehr, weil der Chef aufgekreuzt war – bewaffnet mit einem Teleskopschlagstock und in Begleitung von zwei Leibwächtern.
So zumindest meldete es ein Arbeiter auf dem Polizeiposten, der notabene direkt gegenüber der Bruchbude liegt. Doch die St. Galler Kantonspolizei nahm den Vorfall nicht einmal auf. Vielmehr unterzog sie den unter Schock stehenden Arbeiter einem Alkoholtest. Es war nicht das einzige Polizeiversagen. Laut Staatsanwältin haben Beamte schon in einem früheren Fall nicht primär gegen den Schweizer Chef ermittelt, sondern gegen seine Arbeiter aus Osteuropa, obwohl diese ihn wegen eines Angriffs angezeigt hätten. Dieses Polizeiverhalten habe der Chef zu nutzen gewusst und immer wieder mit Anzeigen gedroht. So hätten die Geprellten ihre Forderungen oft fallengelassen. Der Beschuldigte habe auch vor dem Einsatz eines Elektroschockers nicht Halt gemacht.
Mehr Glück hatten da die Gipser von Zürich Wiedikon. Die Unia organisierte ihnen umgehend ein Hotelzimmer, gewährte einen Vorschuss und machte den Skandal via «20 Minuten» publik. «Man muss handeln, solange die Baustelle noch läuft, sonst fehlt der nötige Hebel», erklärt Gewerkschafterin Suter. In der Tat.
CHEF LEBT LUXUSLEBEN
Bald sah sich die Migros-Pensionskasse als Bauherrin gezwungen, bei der Lohnzahlung in die Bresche zu springen. Und auch die Justiz begann endlich zu ermitteln. Seither sind Unmengen an Beweismitteln zusammengekommen. Die abgehörten Telefongespräche etwa füllen 72 CDs. Ausgewertet wurden auch die Ausgaben, die der Beschuldigte über seine Firmenkonten tätigte. Sie zeichnen ein dekadentes Protzerleben: Regelmässig brach der Privatjet-Nutzer und Ferrari-Fahrer zu Shoppingtouren auf, vornehmlich an die Zürcher Bahnhofstrasse, wo in Boutiquen und Parfumläden Unsummen liegen blieben. In Luxushotels wie dem «Dolder Grand» oder dem «Baur au Lac» war er quasi Stammgast. Und auch in seiner Lieblingsdestination St. Moritz wollte er ganz oben mitspielen, etwa mit tausendfränkigen VIP-Tickets für ein Pferderennen. Über 600 000 Franken zweigte der «Gipsermeister» total für Privates ab. Ob sein Luxusleben weitergeht? Urteilseröffnung ist am 20. März. Es gilt die Unschuldsvermutung.
*Name bekannt
Dieser Mann schuldet Der FrischGips 38 000 chf Die uns nicht bezahlt wurden nach ausgerichteter arbeit er ist ein Betrüger Arbeitet für Briefkastenfirmen .